2015-07-31

O f f e n e r B r i e f An die Geschäftsführer der AUSTRIA- PRESSE-AGENTUR (APA)


Hrn. Mag. Peter KROPSCH, MAS, Vorsitzender der Geschäftsführung und geschäftsführendes Vorstandsmitglied, Stockerau,
sowie Hrn. Dr. Clemens PIG, Geschäftsführer, Klosterneuburg
p.A. 1060 Wien, Laimgrubeng. 10
per E-mail sowie per eingeschriebener Briefpost vom 17. Juli 2015

Betrifft:
KRASSE INFORMATIONSUNTERDRÜCKUNG BEIM EU-AUSTRITTS-VOLKSBEGEHREN

Sehr geehrte Herren!

Mit Befremden und von Monat zu Monat steigendem Unverständnis mußten viele Österreicher im Vorfeld des überparteilichen EU-Austritts-Volksbegehrens das "Versagen"der meisten großen Medien bei der Information - besser Nicht-Information - über dieses Bürgerbegehren erleben. Diese wurde zu einem erheblichen Ausmaß durch die Inaktivität Ihres Unternehmens, der österreichischen Presseagentur APA,  herbeigeführt, die ja im Besitz der Tageszeitungen (mit Ausnahme der "Kronen-Zeitung" und "Heute") und des ORF ist und diese mit aktuellen Meldungen und Informationstexten und -Fotos zu versorgen hat. Trotz in diesen Monaten insgesamt zwölf  von uns organisierten Pressekonferenzen, zu denen alle Journalisten per OTS-Aussendungen eingeladen wurden, erschien nur bei zwei dieser Pressekonferenzen überhaupt ein Redakteur der APA, und es wurden insgesamt in den fünfeinhalb (!) Monaten von der Genehmigung des Volksbegehrens durch das Innenministerium bis zur tatsächlichen Eintragungswoche ganze 6 APA-Meldungen zum EU-Austritts-Volksbegehren an diese Medien herausgegeben, von näheren Informationen ganz zu schweigen. Diese wurden aber von den sechs Mitgliedern des Personenkomitees jeweils ausführlich persönlich und in Aussendungen dargelegt sowie mit entspr. fachlichen Unterlagen untermauert; fast immer wurde die APA zusätzlich noch in persönlichen Telefonaten mit Redakteuren zu diesen Terminen rechtzeitig eingeladen, sodaß die Pressekonferenzen alle dort nachweislich bekannt waren.

Beim sogenannten "Bildungs-Volksbegehren" des Großindustriellen Hannes Androsch im November 2011 hingegen gab es 72  APA-Meldungen mit z.T. ausführlichen Informationen dazu, sodaß durch Monate hindurch großformatige Artikel in fast allen Zeitungen darüber sowie zahlreiche Informations- und Diskussions-Sendungen dazu im Fernsehen und Hörfunk stattfanden. Welche Gründe hat dieses krasse Informations-Ungleichgewicht bei ein- und demselben direktdemokratischen Instrument, nämlich dem Volksbegehren? Die Öffentlichkeit - vor allem jene Bürger, denen immer wieder "Politikverdrossenheit" vorgeworfen wird - haben ein Recht, zu erfahren, warum die offizielle AUSTRIA-PRESSE-AGENTUR beim Volksbegehren eines Multimillionärs 72 Informationstexte an Zeitungen und ORF aussendet, beim Volksbegehren "normaler" Bürger jedoch (was ja der Sinn aller Volksbegehren sein sollte) nur ganze 6.

Mit dieser gleichheitswidrigen Vorgangsweise hat die APA wesentlich dazu beigetragen, daß mindestens ein  Drittel, wenn nicht die Hälfte aller Österreicher und Österreicherinnen gar nicht erfahren konnte, daß es das EU-Austritts-Volksbegehren überhaupt gab. Viele Bürger fragen sich nun, ob genau das die (undemokratische) Absicht dabei war?!

Wir sehen Ihrer Stellungnahme mit Interesse entgegen und verbleiben bis dahin

mit vorzüglicher Hochachtung

Inge Rauscher, Bevollmächtigte des EU-Austritts-Volksbegehrens,
im Namen des überparteilichen Personenkomitees.

p.A. 3424 Zeiselmauer, Hageng. 5, Tel. 02242/70516, 


2015-07-28

Die Bedeutung der direkten Demokratie für die Sicherung des sozialen Friedens


 Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit (Teil 1)

von Dr. rer. publ. W. Wüthrich

In diesen Wochen finden in der Schweiz mehrere Veranstaltungen statt, an denen über die direkte Demokratie in der Schweiz diskutiert wird. Reformvorschläge liegen auf dem Tisch, wie die Anforderungen für Volksinitiativen verschärft werden könnten. Auch in den Medien wird das Thema rege diskutiert. Insbesondere hört man immer wieder, dass das Volk mit den anspruchsvollen Themen aus dem Bereich der Finanzen und der Wirtschaft überfordert sei und dass das EU-Recht, das Völkerrecht oder die globale Welt ganz allgemein der direkten Demokratie eines Einzelstaates Grenzen setze. In den folgenden Zeilen soll gezeigt werden, dass die geschichtliche Bedeutung von Volksabstimmungen und Volksinitiativen für die Entwicklung der Schweiz nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Mehr noch: Gerade in schwierigen Zeiten haben sich Volksabstimmungen und Volksinitiativen segensreich auf die politische Entwicklung ausgewirkt.
Ausgangspunkt für diese Betrachtung ist die Abstimmung vom kommenden 14. Juni über die Volksinitiative zur Einführung einer Erbschaftssteuer auf Bundesebene, die auf Erbschaften über zwei Millionen Franken 20 Prozent Steuern erheben will. Es ist eine Art Reichtumssteuer, die nur zwei Prozent der Steuerpflichtigen betreffen würde. Im folgenden steht jedoch weniger der Inhalt dieser Initiative im Vordergrund als das Ereignis, dass das Volk über eine Bundessteuer abstimmt. Einerseits ist dies weltweit einmalig und andererseits steht dies in einer Tradition, die im Ersten Weltkrieg begonnen hat, als das Volk in der Schweiz in mehreren Urnengängen darüber abgestimmt hat, wie die Kosten für die Landesverteidigung zu finanzieren seien, und später nach dem Krieg, wie die Schulden getilgt werden müssen.
Der 14. Juni 2015 erinnert an ein ganz besonderes Datum. Vor fast genau hundert Jahren – am 6. Juni 1915 – wurde in der Schweiz mitten im Ersten Weltkrieg zum ersten Mal über eine neue Bundessteuer abgestimmt. Erinnern wir uns an die Ereignisse von damals und deren Bedeutung für die politische Entwicklung des heutigen Bundesstaates.
Der eine oder andere Leser wird hier einwenden, dass es schon früher gesamtschweizerische Verfassungsabstimmungen gegeben habe. Das ist richtig – jedoch nicht über Bundessteuern, weil es solche gar noch nicht gab. Vor 1915 finanzierte sich der Bund ausschliess­lich über Zölle und Abgaben. Einkommens- und Vermögenssteuern blieben den Gemeinden und Kantonen vorbehalten, die schon weit früher über Steuern abstimmten.
Bewährungsprobe der direkten Demokratie im Ersten Weltkrieg
Als der Erste Weltkrieg begann, zeigte es sich bald, dass die Gelder des Bundes bei weitem nicht ausreichten, die Mobilmachung und die schnell steigenden Ausgaben für die Landesverteidigung zu decken. Als Abhilfe fasste der Bundesrat eine progressive direkte Bundessteuer auf Einkommen und Vermögen für die Dauer des Krieges ins Auge. Die Diskussion drehte sich vorerst um die Frage, ob diese neue Steuer über die Kriegsvollmacht – das heisst ohne Volksabstimmung – eingeführt werden sollte oder ob man den ordentlichen Weg beschreiten sollte, indem das Parlament dem Volk einen Verfassungsartikel zur Beurteilung vorlegen sollte. Die Politiker entschieden sich aus urdemokratischer Gesinnung für das letztere, was damals und ganz besonders in der Kriegssituation überhaupt nicht selbstverständlich war. Das Volk bewies seine hohe politische Reife, indem es trotz schwieriger Lebensbedingungen mit 93 Prozent Ja für die sogenannte «Kriegssteuer» stimmte, die höchste Zustimmung, die eine Bundesvorlage bis heute je erreicht hat. Ein Jahr später folgte eine Abstimmung über die Stempelsteuer, die Besitzer von Wertpapieren zu bezahlen hatten. Auch diesmal stimmte das Volk zu – wenn auch nur noch mit 53 Prozent. Daraufhin reichten die Sozialdemokraten eine Volksinitiative ein, die die direkte Bundessteuer auf Einkommen und Vermögen auf Dauer – das heisst über den Krieg hinaus – einführen wollte. Die Ansprüche an den Staat seien gestiegen, und er brauche deshalb zur Bewältigung der Zukunftsaufgaben auf Dauer mehr Steuern. 54 Prozent der Stimmenden lehnten am 2.6.1918 ab. Diese Abstimmungen haben den Zusammenhalt zweifellos gestärkt.
Nach dem Krieg stellte sich die Frage der Rückzahlung der «Kriegsschulden» von etwa 1 Milliarde Franken (heutiger Wert etwa 10 Milliarden). Während andere Länder diese Inlandschulden über die Inflation erledigten, schlug der Bundesrat vor, die 1915 ausserordentliche, ursprünglich nur für die Dauer des Krieges beschlossene Steuer weiterzuführen, bis diese Schulden zurückbezahlt wären. Am 4.5.1919 stimmte das Volk zu und akzeptierte den Plan des Bundesrates mit hohen 63 Prozent Ja-Stimmen. (Diese Steuer sollte erst 12 Jahre später wieder aufgehoben werden.) Diesmal gab es jedoch Opposition. Die Sozialdemokraten waren nicht einverstanden. Die Arbeiter waren von den Nöten, Entbehrungen und Problemen des Krieges ungleich härter getroffen als der Mittelstand und die Reichen. Sie wiesen auch darauf hin, dass etliche auch vom Krieg profitiert hätten und es mehr als gerecht sei, dass die Reichen und Profiteure des Krieges für die Kriegsschulden aufkommen müssten. 1921 reichte die SP die Volksinitiative für «die Erhebung einer einmaligen Vermögensabgabe» für Reiche ein. Ein Bürger mit einem Vermögen im heutigen Wert von 10 Millionen Franken hätte zum Beispiel 20 Prozent von seinem Vermögen abgeben müssen, noch reichere deutlich mehr. Juristische Personen, das heisst vor allem Aktiengesellschaften, hätten 10 Prozent vom Geschäftsvermögen bezahlen müssen. Eine kleine Minderheit von gerade einmal sechs Promille der Steuerpflichtigen wäre betroffen gewesen, und diese hatten Grund zu befürchten, dass sich die übergrosse Mehrheit gegen ihre Interessen entscheiden würde. Um den Unternehmen die Zahlung zu erleichtern, wurde vorgeschlagen, dass diese die neuen Steuern statt mit Geld auch mit Wertpapieren und mit eigenen Aktien bezahlen könnten. Der Staat wäre so zum Miteigentümer an privaten Unternehmen geworden. Das führe zur «Verstaatlichung der Produktionsmittel» und zum Kommunismus, wie es die Marxisten forderten und wie es Lenin in Russland praktiziere, protestierten die Gegner dieser Vorlage. Der Ertrag der Steuer – so die SP – sollte zur Tilgung der Kriegsschulden und für soziale Zwecke verwendet werden. Der Abstimmungssonntag vom 3.12.1922 sollte in die Geschichte der direkten Demokratie eingehen. Fast alle Stimmberechtigten – 86,3 Prozent – gingen zur Urne und lehnten die Volksinitiative mit 87 Prozent der Stimmen wuchtig ab. Das geht uns eindeutig zu weit, war die Botschaft an die Initianten. Grosse Teile der Arbeiter hatten mit Nein gestimmt. Diese rekordhohe Stimmbeteiligung sollte bis heute nie mehr erreicht werden.

Generalstreik 1918

Ein weiterer Punkt im Zusammenhang mit dieser Abstimmung fällt auf. Die «Rückzahlung der Kriegsschulden durch die Besitzenden» war eine zentrale Forderung gewesen im Landesgeneralstreik vom November 1918. Zum Generalstreik einige Stichworte: Im Herbst 1918 riefen linke Parteien und die meisten Gewerkschaften zu einem landesweiten Streik auf. Er war begründet mit der Notlage, in die viele Schweizer Arbeiter während des Krieges geraten waren. Die Preise hatten sich verdoppelt, während sich die Löhne nur wenig verändert hatten. Die Rationierung der Lebensmittel war erst 1917 in Angriff genommen worden. Der Lohnersatz während des Militärdienstes war nur unzureichend geregelt. Das Land war ganz allgemein schlecht vorbereitet auf die lange Kriegszeit – was sich auf die Arbeiterschaft am stärksten ausgewirkt und sie verbittert hatte.
Dazu gab es weitere Gründe, dass sich die politischen Gräben vertieften. Lenin, Trotzki und andere russische Revolutionäre hielten sich längere Zeit als Asylanten in der Schweiz auf und agierten von hier aus. Vor allem Lenin nahm auch zu innenpolitischen Fragen der Schweiz Stellung und radikalisierte mit seiner revolutionären Ideologie Teile der Linken. So enthielt das Parteiprogramm der SP von 1920 eine ganze Passage über die Diktatur des Proletariats – ganz nach leninistischem Vorbild. Dieser Punkt war jedoch auch innerhalb der Partei umstritten. (100 Jahre Sozialdemokratische Partei der Schweiz, Zürich 1988, S. 47)
Der für den November 1918 geplante Generalstreik wurde in Zeitungsartikeln und Flugblättern mit einigem revolutionären Pathos angekündigt, so dass der Bundesrat einen Militäreinsatz in Erwägung zog. Vor allem die Armeeführung drängte in diese Richtung, um allfälligen Umsturzversuchen frühzeitig begegnen zu können. Der Armeestab von General Wille ging sogar davon aus, dass ein Umsturz erfolgreich sein könnte und arbeitete eine Strategie für eine «Gegenrevolution» aus. Wille war eben nicht der General für das ganze Schweizervolk wie Henri Guisan im Zweiten Weltkrieg.
Als die Sozialdemokraten unmittelbar vor dem Streik im ganzen Land zu Gedenkveranstaltungen zur Oktoberrevolution in Russ­land aufriefen, die ein Jahr zuvor stattgefunden hatte, reagierten der Bundesrat und die Armeeführung übertrieben. Sie boten grosse Teile der Armee auf – ungefähr 95000 Mann –, um die Bahnhöfe, Regierungsgebäude, Banken, Telefonzentralen usw. zu bewachen – alles Einrichtungen, die bei Umstürzen und Revolutionen jeweils als erstes besetzt werden. In einzelnen Gemeinden wurden Bürgerwehren gegründet.
Das Militäraufgebot war so massiv, dass sich die Streikenden zu Recht provoziert fühlten und ihren Protest zum Ausdruck brachten. An 107 Orten in der Schweiz legten schliess­lich 250000 Streikende gleichzeitig die Arbeit nieder.
Im Raume Zürich, wo grössere Unruhen erwartet wurden, waren 8000 Mann im Einsatz, und die Kantonsregierung verlegte ihren Sitz zeitweise in die Kaserne. Die Streik­leitung rief zur Besonnenheit auf und forderte die Arbeiter auf, sich vom Riesenaufgebot der Armee nicht provozieren zu lassen. Auf dem Fraumünsterplatz kam es zu Zusammenstössen, und es wurde geschossen. Ein Schweizer Soldat blieb tot auf dem Platz liegen – von einem Pistolenschuss getrosffen. Es ist anzunehmen, dass es Heckenschützen gab, die an einer Eskalierung interessiert waren. Der Zürcher Kommandant rüstete die Soldaten mit Handgranaten aus und gab den Befehl, diese auch zu gebrauchen, falls sie aus Fenstern beschossen würden. Die Streikenden verhielten sich in der Regel diszipliniert. Trotzdem bestand Gefahr, dass solche Situationen zu einem Blutbad hätten führen können.
Als sich in der Folge die politische Situation nicht wesentlich entspannte, verlangte der Bundesrat mit Unterstützung des Parlamentes ultimativ, den Streik abzubrechen, was die Streikleitung auch tat. Der Streik endete so nach nur drei Tagen.
Hauptgrund für den glimpflichen Verlauf dieser ernsten Situation war die Tatsache, dass die Demonstrierenden bis vor kurzem dieselbe Uniform getragen hatten wie die gegenüberstehenden Truppen. Sowohl die Soldaten und ihre Kommandanten hatten ihre Pflicht in dieser schwierigen Situation in der Regel mit viel Verantwortungsgefühl erfüllt. Auf der andern Seite hat auch die Streikleitung immer wieder zur Gewaltfreiheit und zur Mässigung aufgerufen und an ihren Veranstaltungen immer auf ein striktes Alkoholverbot geachtet. Trotzdem war die Situation gefährlich, und es grenzt fast an ein Wunder, dass während des Streiks nur ein einziges Todesopfer zu beklagen war. In anderen europäischen Städten wie München, Berlin, Wien und Budapest kam es in diesen Wochen ebenfalls zu politischen Unruhen, die viel gewalttätiger verlaufen sind und wo es tatsächlich zu Revolutionsversuchen kam. Auch in England, Frankreich und in Norditalien kam es zu grossen Streiks.
In der späteren gerichtlichen und historischen Aufarbeitung der Ereignisse in der Schweiz stellte sich jedoch heraus, dass wohl vereinzelt wenige Waffen und etwas Sprengstoff gefunden wurden. Es gab jedoch keine Umsturzpläne, wie vor allem General Wille fälschlicherweise angenommen hatte. Innenpolitisch waren diese Tage zweifellos der absolute Tiefpunkt in der Geschichte des Bundesstaates. Auch aussenpolitisch hatte der Streik Folgen. Der Bundesrat brach die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion ab, weil er vermutlich mit Recht annahm, dass Lenin sein Gastrecht missbraucht hatte und für den Streik mitverantwortlich war. Die Beziehungen zur Sowjetunion wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen. Wieweit Lenin für die Radikalisierung von Teilen der Linken am Ende des Ersten Weltkrieges mitverantwortlich war, ist heute umstritten.
Gefährlich war der Landesgeneralstreik noch aus einem andern Grund. Die oft tödlich verlaufende Spanische Grippe grassierte. Bereits waren 300000 Fälle registriert. Man musste davon ausgehen, dass die grossen Menschenansammlungen zu zahlreichen Ansteckungen und Todesfällen geführt haben. Die Statistik der Armee weist 200 Todesfälle für die Spanische Grippe aus.
Abkehr vom Klassenkampf und ­Annäherung in einer schwierigen Zeit
Was haben nun die Ereignisse um den Generalstreik mit unserem Thema der direkten Demokratie zu tun? – Sehr viel. Es kam nach dem Ersten Weltkrieg zu zahlreichen Volksabstimmungen. Nach dem Streikabbruch kamen zwar noch einige Scharfmacher zu Wort. So kommentierte das zum Teil marxistisch indoktrinierte Streikkomitee den Abbruch des Generalstreiks wie folgt:
«[…] Wir sind mit unseren Forderungen nicht durchgedrungen. Die Arbeiterschaft erlag der Macht der Bajonette. Aber sie ist nicht besiegt. Im Ganzen hat sie zum ersten Mal eine Waffe von grosser und furchtbarer Bedeutung, wenn es sein muss, erlangt. Sie gilt es auszubauen und zu schärfen.»
Zur Ausweitung und Verschärfung des Generalstreiks kam es aber nicht – wegen der direkten Demokratie. So wurde in den Monaten und Jahren danach über fast alle Punkte im Forderungskatalog des Generalstreiks einzeln abgestimmt, und die Arbeiter erlebten, dass die meisten ihrer Anliegen eine Mehrheit fanden – ein weltweit einzigartiger Vorgang. Die Liste dieser Volksabstimmungen ist lang und beeindruckend.
Am 13.10.1918 hatte das Volk eine Volksinitiative der Sozialdemokraten mit 67 Prozent angenommen, die die Proporzwahl des Nationalrates verlangte.
Am 10.8.1919 sagte es mit 71 Prozent ja zur vorzeitigen Auflösung des Nationalrates und zur Neuwahl nach dem neuen Verfahren. (Die Sitzzahl der Sozialdemokraten verdoppelte sich fast.)
Am 21.3.1920 wurde das Bundesgesetz betreffend die Ordnung des Arbeitsverhältnisses mit 50,2 Prozent Nein hauchdünn abgelehnt.
Am 31.10.1920 sagte das Volk ja zu kürzeren Arbeitszeiten bei den Eisenbahnen und Verkehrsbetrieben (Staatsbetriebe).
Am 3.12.1922 lehnte es – wie bereits berichtet – die Volksinitiative für die «Erhebung einer einmalige Vermögensabgabe» zur Tilgung der Kriegsschulden massiv ab.
Am 17.2.1924 stimmte das Volk in einer Referendumsabstimmung mit 57 Prozent Ja der gesetzlichen Einführung der 48-Stundenwoche zu.
Die Schaffung einer Alters- und Invalidenversicherung war ein zentraler Punkt im Forderungskatalog des Generalstreiks. Dazu kam es zu einer ganzen Reihe von Abstimmungen: Am 6.12.1925 legte das Volk mit 65 Prozent der Stimmen den Grundstein zur Einführung der Alters- und Hinterlassenversicherung (AHV) in der Verfassung.
Ein erster Versuch, die AHV konkret einzurichten, scheiterte 1931 in der Volksabstimmung deutlich mit 60 Prozent Nein. Die Wirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg verzögerten daraufhin das anspruchsvolle Projekt, das nach dem Kriegsende sofort wieder aufgenommen wurde. 1947 stimmte das Volk bei einer Stimmbeteiligung von 80 Prozent mit 80 Prozent Ja der AHV zu – in den Grundzügen, die heute noch gelten.
Im Forderungskatalog des Generalstreiks von November 1918 hatten die Arbeiter die «Sicherung der Lebensmittelversorgung im Einvernehmen mit den landwirtschaftlichen Produzenten» verlangt. In drei Abstimmungen – dazu gehörte auch eine Volksinitiative – leitete das Volk die Abkehr von der liberalen Landwirtschaftspolitik der Vorkriegszeit ein. Der Bund erhielt den Auftrag, den Getreideanbau zu fördern, Vorräte zu halten, Müllereien zu erhalten und den Handel mit Getreide zu überwachen. 1914 waren 90 Prozent des Getreides importiert worden, was im Verlauf des Krieges immer schwieriger wurde, so dass es zu Hunger und zu schweren innenpolitischen Spannungen gekommen war. Das sollte nicht wieder vorkommen. Im Zweiten Weltkrieg war die Schweiz deutlich besser vorbereitet, die Bevölkerung ausreichend zu ernähren.
Neben diesen wirtschaftlichen Vorlagen wurden 1921 eine Volksinitiative aus der französischen Schweiz mit 71 Prozent Ja-Stimmen angenommen, die unbefristete oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossene Staatsverträge dem Referendum unterstellte, womit auch die Schweizer Aussenpolitik im Sinne der Volksrechte demokratisiert wurde.
Eine sehr grosse Zahl von ganz zentralen Anliegen der Bevölkerung und gerade auch aus Arbeiterkreisen wurde in diesen Jahren direktdemokratisch entschieden. Dazu gehörten auch zwei Volksinitiativen der Sozialdemokraten über Bundessteuern. Zahlreiche weitere Abstimmungen sollten im Laufe der Jahrzehnte folgen. Die im Landesgeneralstreik unterlegenen Arbeiter machten die Erfahrung, dass ihre Anliegen ernst genommen wurden und dass es bessere Wege gab, diese durchzusetzen. Dazu gehörten auch die Gesamtarbeitsverträge, die in den 1920er Jahren zwischen den Verbänden der Arbeitgeber und den Gewerkschaften zunehmend ausgehandelt wurden. Begriffe wie «revolutionärer Generalstreik» oder überhaupt «Streik» verloren im Vokabular der Arbeiter an Bedeutung. Ein erstes Zeichen eines deutlichen Wandels hatte sich bereits Ende 1920 gezeigt. Der sozialdemokratische Parteitag weigerte sich mit deutlichem Mehr, der von Lenin begründeten Dritten Internationale beizutreten – ein Entscheid, der auch von der Basis in einer Urabstimmung mitgetragen wurde.
Das Friedensabkommen von 1937 zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden der Uhren-, Maschinen- und Metallindustrie stellte schliesslich die Weichen für eine Arbeitswelt mehr oder weniger ohne Streiks – bis heute. Die Kontrahenten standen sich nicht mehr im Klassenkampf gegenüber, sondern als Sozialpartner, die im Gedeihen der Unternehmen gemeinsame Interessen haben. Im Unterschied zum Streik geht es in der Schweiz bei der Volksabstimmungen oder bei Gesamtarbeitsverträgen nicht darum, der Regierung, dem Parlament oder einem Arbeitgeber eine Konzession abzutrotzen, sondern es ist ein freier Entscheid der Bürger und Vertragspartner und hat damit eine ganz andere Qualität. Es ist eine ganz andere politische Kultur, die sich herausgebildet hat und die ausgleichend und mässigend wirkt.
Diese Überlegungen lassen sich auch für die schwierige Zeit der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren fortführen und vertiefen. Auch in dieser Zeit lässt sich feststellen, dass die vielen Volksabstimmungen und Volksinitiativen mitgeholfen haben, diese Krise politisch und wirtschaftlich zu bewältigen und so wesentlich zum Zusammenhalt und zur gedeihlichen Entwicklung der Schweiz beigetragen haben. Dazu mehr im zweiten Teil.    


Die Bedeutung der direkten Demokratie für die Sicherung des sozialen Friedens (Teil 2)

Wirtschaftsverfassung und direkte Demokratie
von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

Im Teil 1 dieser Artikelfolge wurde aufgezeigt, wie zahlreiche Volksabstimmungen und Volksinitiativen in der schweren Zeit des Ersten Weltkrieges und den Jahren danach wesentlich dazu beigetragen haben, den sozialen Frieden in der Schweiz zu sichern und die politisch und wirtschaftlich schwierige Zeit zu bewältigen. Nur wenige Jahre später – in den 1930er Jahren – steckte ­Europa erneut in einer grossen Krise. Die Weltwirtschaft war aus den Fugen geraten. Hohe Arbeitslosigkeit und soziale Not plagten die Bevölkerung in vielen Ländern. Niemand wusste einen Ausweg. Mancherorts – vor allem in Deutschland – war die Wirtschaftsdepression der Boden für politische Umwälzungen.
In der Schweiz kam es zu intensivsten politischen Auseinandersetzungen. Hat das liberale Wirtschaftskonzept der Schweiz noch Zukunft, war die zentrale Frage, oder muss die Wirtschaft von Grund auf neu eingerichtet werden. Muss die liberale Wirtschaftsverfassung über Bord geworfen und durch etwas Krisentaugliches ersetzt werden? Hochbrisante Fragen wie diese bestimmten das politische Leben, und es bestand Gefahr, dass das Land instabil werden könnte. In keiner Zeit waren die wirtschafts- und ordnungspolitischen Gegensätze so gross und die politischen Auseinandersetzungen so hart. Wiederum kam es zu zahlreichen Volksabstimmungen und Volksinitiativen. Insgesamt zehn Volksinitiativen beanspruchten, eine Antwort oder einen Beitrag zur Lösung der Krise zu haben. Während in andern Ländern sich die politischen Gegner Strassenschlachten lieferten oder in Bürgerkriegen gegenüberstanden, wurden in der Schweiz Unterschriften gesammelt. Die Brisanz der Vorlagen zeigt sich auch in der Unterschriftenzahl. Die Sozialdemokraten und Gewerkschaften zum Beispiel sammelten 567188 Unterschriften für ihre Krisen-Initiative, die 1935 zur Abstimmung kam – elfmal mehr als in der Verfassung verlangt. Die Tage der liberalen Wirtschaftsverfassung schienen gezählt.
Wie war es möglich, dass es in dieser angespannten Situation zu keiner politischen Umwälzung kam und der soziale Friede gewahrt blieb? Wie war es möglich, dass extreme Parteien keine Chancen hatten? Diesen Fragen soll hier nachgegangen werden.

Die Wirtschaftsverfassung von 1874
Um die Ereignisse dieser Jahre zu verstehen, müssen wir als Ausgangslage und als Vorgeschichte die Wirtschaftsverfassung in der Bundesverfassung der Schweiz von 1874 betrachten, die in den Debatten zentral war und in der Krise von den verschiedenen politischen Lagern wieder und immer wieder angegriffen oder verteidigt wurde.
Die Wirtschaftsverfassung in der Bundesverfassung von 1874 war liberal. Sie enthielt in ihrem Kern drei zentrale Elemente:
1.    Die Wirtschaftsfreiheit als naturrechtlich begründetes Freiheitsrecht des Bürgers
2.    Die Wirtschaftsfreiheit als Grundsatz, das heisst als Leitidee für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung
3.    Die direkte Demokratie – als Entscheidungsverfahren, um den rechtlichen Rahmen und die Regeln für ein geordnetes Wirtschaftsleben festzulegen. Die Verfassungsgeber waren von der Überzeugung geleitet, dass das Volk wichtige Eckpunkte direkt bestimmen und die Weichen für die Weiterentwicklung selber stellen soll. Damit sollte der soziale Frieden gewahrt werden und die Wirtschaft am besten gedeihen.
Diese ungewöhnliche Verfassung hat eine Vorgeschichte. Sie ist es wert, erforscht zu werden.
Der Verfassungsgeschichtler Alfred Kölz kommt in seinem epochalen Werk «Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte» von 2004 zum Schluss, dass die Schweiz gemäss der BV von 1874 weltweit das einzige Land war, das die Wirtschaftsfreiheit als naturrechtlich begründetes Grundrecht in die Verfassung aufgenommen hat, weil sie zur menschlichen Existenz gehört und sich aus dem natürlichen Recht des Menschen auf seine individuelle Freiheit ableitet: Dazu Kölz: «Die Schweiz war und ist das einzige Land der Welt, welches die Wirtschaftsfreiheit als Freiheitsrecht anerkennt.» (S. 870) Wer sich für die Entstehungsgeschichte dieser aussergewöhnlichen Rechtsauffassung interessiert, muss in den Büchern weit zurückblättern.
Die Thurgauer Verfassung als Beispiel in der Regenerationszeit
Im Jahr 1830 sass Thomas Bornhauser, Pfarrer in der Thurgauer Gemeinde Matzingen, zusammen mit einigen Kollegen aus dem Kantonsparlament um den Tisch im Pfarrhaus. Sie hatten vom Parlament den Auftrag erhalten, für den Kanton eine neue Verfassung zu entwerfen, die die Ideen der Aufklärung und der Menschenrechte wieder aufleben lassen und sie deutlicher als bisher umsetzen sollte. Andere Politiker in anderen Kantonen hatten ähnliche Ziele. Diese Bewegung sollte als Regeneration in die Geschichte eingehen.
Thomas Bornhauser war sehr volksverbunden und setzte sich mit Herzblut für die neue Bewegung und für den Kanton Thurgau ein. Auf dem Tisch im Pfarrhaus zu Matzingen lagen die Eingaben von 130 Gemeinden und Berufsverbänden, die konkret ihre Wünsche für die neue Verfassung äusserten. Zuoberst auf ihrer Liste standen wirtschaftliche Reformen und die Garantie der wirtschaftlichen Freiheit, die einfach zur menschlichen Existenz gehöre. Manche der damaligen Wirtschaftsformen im Thurgau hatten ihre Wurzeln im Mittelalter. So gab es im Thurgau noch Feudalabgaben, die der neuen Zeit längst nicht mehr entsprachen. Verbreitet waren auch noch die sogenannten Ehehaften: Für die Errichtung von Mühlen, Bäckereien, Metzgereien, Schmieden, Ziegeleien, Gastwirtschaften und weiterer Betriebe musste bei den Behörden gegen Entgelt ein Patent eingeholt werden. Dieses wurde nur erteilt, wenn ein Bedürfnis bestand. Ein Konkurrenzbetrieb konnte so nicht eröffnet werden und ein Wettbewerb konnte nicht entstehen. Thomas Bornhauser betrachtete die Ehehaften als Privileg, das nicht mehr zeitgemäss war. Auch manche der bestehenden Handwerksordnungen – die industrielle Revolution hatte eben erst begonnen – galten nicht mehr als zeitgemäss.
Die Verfassung, die Thomas Bornhauser und seine Kollegen entwarfen und die am 14. April 1831 vom Thurgauer Volk mit grosser Mehrheit angenommen wurde, hatte unter anderem folgende Eckpunkte: «Das Volk regiert sich selbst durch von ihm gewählte Stellvertreter.» (Artikel 4) Die Staatsgewalt wird in eine gesetzgebende, vollziehende und in eine richterliche Gewalt aufgeteilt. (Art. 5) Die ganze Staatsverwaltung, insbesondere auch Gerichtsverhandlungen, sind öffentlich. (Art. 6) Der Staat ist verantwortlich und sorgt für ein gutes Schulwesen. (Art. 20) Der Verfassungsentwurf enthielt einen für damals erstaunlichen Katalog von Menschen- und Bürgerrechten wie die Rechtsgleichheit, die Meinungsäusserungs- und die Religionsfreiheit:
«[…] Es bestehen sonach keine Vorrechte der Geburt, der Personen, der Familien, des Ortes, des Amtes und des Vermögens. Der Bürger ist einzig dem Gesetz unterthan, welches für alle dasselbe ist.» (Art. 9) Die Meinungsäusserungsfreiheit – in Wort und Schrift (Art. 11) ist garantiert, ebenso die Glaubens- und Gewissenfreiheit für christliche Konfessionen. (Art. 21) Diesem Katalog der Menschenrechte fügte Thomas Bornhauser die Wirtschaftsfreiheit hinzu – und in Ergänzung dazu den Schutz des Privateigentums:
«Alle Bürger des Kantons geniessen volle Arbeits-, Erwerbs- und Handelsfreiheit. Nur der Missbrauch dieser Freiheit ist durch weise Polizeigesetze zu verhüten. […].» (Art. 12) «Das Eigentum ist heilig. Es kann niemand gezwungen werden, sich seines Eigentums weder im Ganzen, noch theilweise zu begeben, ausser in dem Fall eines gesetzlichen anerkannten allgemeinen Bedürfnisses, und auch dann nur gegen gerechte Entschädigung.» (Art. 14)
Diese Verfassung vom 14. April 1831 war für ihre Zeit revolutionär. Im Ausdruck «weise Polizeigesetze», die die Handels- und Gewerbefreiheit einschränken, kommt etwas zum Ausdruck, das Thomas Bornhauser bereits vorausgeahnt hatte. Es würde nicht einfach werden, der Wirtschaftsfreiheit des Bürgers Grenzen zu setzen, so dass sie den verschiedenartigen Bedürfnissen und Interessen der Bürger gerecht werden und dem Gemeinwohl dienen. In den Jahren nach 1831 folgten weitere Kantone mit ähnlich liberalen Verfassungen. In städtischen Kantonen wie Zürich, Schaffhausen oder St.Gallen ging es vor allem darum, das strenge Regime der Zünfte zu lockern.
Entwicklung der direkten Demokratie in den Kantonen
In diesen Jahren waren auch die ersten Ansätze von direkter Demokratie auch in Kantonen zu beobachten, die die Landsgemeinde nicht kannten. Einige führten das sogenannte Vetorecht ein. (vgl. René Roca, «Wenn die Volkssouveränität wirklich eine Wahrheit werden soll …», Zürich 2012, ISBN 978-3-7255-6694-5). Eine Mehrheit der Stimmberechtigten erhielt im Prinzip die Möglichkeit, zu einem neuen Gesetz des Parlamentes nein zu sagen. Daraus entwickelte sich in verschiedenen Kantonen das Referendum, das wie folgt funktioniert: Das Parlament beschliesst ein neues Gesetz und legt es dem Volk zur Beurteilung vor, das dazu ja oder nein sagen kann. Damit wurde das Volk wirklich zum Souverän – im eigentlichen Sinn des Wortes.
Die 1860er Jahre waren ein Jahrzehnt der «demokratischen Bewegungen», die in etlichen Kantonen das Referendumsrecht und auch das Initiativrecht zum Durchbruch brachten. Als Beispiel soll auch hier der Kanton Thurgau aufgeführt werden. So stand im Artikel 4 der Verfassung vom 28.2.1869:
Der Volksabstimmung […] unterliegen:
a    alle Gesetze und Konkordate
b    alle Grossratsbeschlüsse, welche eine neue einmalige Gesamtausgabe von wenigstens 50000 Franken, oder eine jährlich wiederkehrende Verwendung von mehr als 10000 Franken zur Folge haben; […]
    Die Abstimmung ist obligatorisch und geschieht durch geheime Stimmabgabe.
Die Kantonsverfassung des Thurgaus enthielt zusätzlich ein Vorschlagsrecht (Initiativrecht) des Volkes zur Abänderung von Gesetzen und der Verfassung. – Vor der Abstimmung gab der Verfassungsrat den Stimmbürgern folgendes Geleit: «Es ist nun an Euch selbst, werthe Mitbürger, ernst und gewissenhaft zu prüfen, ob Ihr in die eigene Kraft und Einsicht das genügende Vertrauen setzet, um die Zügel der Staatsleitung selbst in die Hand nehmen zu können.» (Alfred Kölz, Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte, S. 186) Das Volk stimmte bei einer Beteiligung von 80 Prozent mit 64 Prozent Ja-Stimmen zu. – Diese und auch andere Kantonsverfassungen dieser Zeit waren wirklich revolutionär – und zwar ohne dass nur ein einziger Gewehrschuss abgefeuert wurde.
Die Handels- und Gewerbefreiheit muss mit der direkten Demokratie verbunden sein: der Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit
Der Verfassungsgrundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit von 1874 steht im Zusammenhang mit den politischen Veränderungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die ersten sozialistischen Bewegungen und Parteien traten auf. Frühsozialisten wie Saint Simon oder Charles Fourier veröffentlichten ihre Gedanken. Sie prangerten die sozialen Missstände an, die als Folge der industriellen Revolution in verschiedenen Ländern wie auch in der Schweiz auftraten und entwickelten Gegenmodelle zur wirtschaftlichen Freiheit aus Sicht der Fabrikbesitzer. Karl Marx und Friedrich Engels gingen noch einen Schritt weiter und publizierten 1848 das Kommunistische Manifest, in dem sie zum Klassenkampf aufriefen: «Proletarier aller Länder vereinigt euch», war ihr Schlachtruf, der die Welt noch erschüttern sollte. Marx zog nach London ins Exil und begann mit der Niederschrift seines Hauptwerks «Das Kapital», in dem er die liberale Marktwirtschaft analysierte und als untauglich verwarf. Das Buch sollte die Grundlage für künftige, meist gewalttätige Revolutionen sein.
Von besonderer Bedeutung für die Schweiz waren die Ereignisse in Paris nach der Februarrevolution von 1848. Die sozialistische Partei unter Führung von Louis Blanc gewann die Wahlen und zögerte nicht lange, ihre Vorstellungen von neuen Wirtschaftsformen in die Tat umzusetzen. Sie fügten in die Verfassung ein neues Menschenrecht ein: das Recht auf Arbeit. Sie setzten es um, indem sie in kurzer Zeit und in grosser Zahl staatliche Nationalwerkstätten mit hunderttausend neuen Arbeitsplätzen errichteten. Sie wollten damit «die Privatwirtschaft durch die Konkurrenz der Staatswirtschaft zurückdrängen». (Proudhon, Bekenntnisse eines Revolutionärs, S. 62) Das Wirtschaftsprojekt der Nationalwerkstätten beanspruchte jedoch grosse Teile der Steuergelder, die der Regierung an anderen Orten fehlten. Zudem traten bald Mängel auf, die später auch in kommunistischen Ländern zu beobachten waren. Als Folge von Fehlplanungen wurden Produkte produziert, die bei den Konsumenten keinen Anklang fanden. Die politische Quittung kam prompt: Die Sozialisten verloren die nächsten Wahlen deutlich und Louis Blanc muss­te nach England fliehen. In Paris kam es zu schweren, politischen Unruhen mit mehreren Tausend Toten.
Die Ereignisse von Paris machten deutlich, dass die Bevormundung von Handel und Gewerbe und das Recht auf Arbeit in der Praxis nicht so leicht zu handhaben waren und ein erhebliches Konfliktpotential enthielten. Die Sozialisten hatten ihre weitreichenden Wirtschaftsexperimente zwar auf Grund eines Wahlerfolgs in die Wege geleitet, ohne das Volk zu fragen, ob es dies wirklich auch will. Eine Volksabstimmung hat mehr Legitimation als ein Wahlerfolg. Hier galt es zu lernen.
Die Ereignisse von Paris hatten Auswirkungen auf die Schweiz. 1856 verstärkte der Kanton Solothurn die Handels- und Gewerbefreiheit als Bürgerrecht, indem er ihr in der Verfassung einen politischen Rahmen zuordnete, den die Verfassungsgeber als Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit bezeichneten. Das heisst konkret: Gesetze oder staatliche Aktivitäten, die im Sinne des Gemeinwohls die Handels- und Gewerbefreiheit einschränken, müssen sich im Grundsatz, das heisst in der Leitidee an einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung orientieren. Es soll nicht möglich sein, dass das Parlament oder die Regierung mit übertriebenen Polizeigesetzen oder staatlichen Aktivitäten verschiedenster Art die Privatwirtschaft zurückdrängen, wie dies in Paris geschehen war. Das Solothurner Volk stimmte am 1. Juni 1856 der neuen Verfassung mit 78 Prozent Ja-Stimmen zu.
Die drei Säulen der Wirtschaftsverfassung von 1874
1874 flossen alle drei der oben geschilderten Elemente, die zuvor alle in zahlreichen Kantonsverfassungen erprobt wurden, in die Bundesverfassung von 1874 ein. Es sind dies:
Die Handels- und Gewerbefreiheit als Grundrecht des Bürgers
Der Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit als Leitidee und Rahmen für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung und
Die direkte Demokratie als Entscheidungsverfahren, mit dem das Volk der Handels- und Gewerbefreiheit einen konkreten Ordnungsrahmen gibt – und zwar in zweifacher Hinsicht:
a) Sämtliche der «weisen Polizeigesetze» (um bei der Formulierung von Thomas Bornhauser zu bleiben), die den Ordnungsrahmen bilden und dem Gemeinwohl dienen, unterstehen dem fakultativen Referendum. Das heisst, mit 30000 Unterschriften kann eine Volksabstimmung herbeigeführt werden.
b) Falls ein politischer Vorstoss jedoch vom Verfassungsgrundsatz der Wirtschaftsfreiheit abweicht, das heisst nicht in eine freiheitliche Wirtschaftsordnung passt, kommt es zu einer obligatorischen Verfassungsabstimmung. Anders formuliert: Regelungen, die vom Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit abweichen, sind zulässig – aber nur mit Zustimmung des Volkes und der Stände. Somit wären staatliche Nationalwerkstätten, wie sie die Sozialisten in Frankreich eingerichtet hatten, auch in der Schweiz möglich gewesen – aber nur mit Zustimmung des Volkes und der Stände. Nur so kann der soziale Frieden gesichert werden, war die Auffassung der Verfassungsgeber – wahrlich eine «weise» Lösung, wie sie Thomas Bornhauser gefallen hätte. – Weiter gilt: Die Initiative für eine Verfassungsänderung kann in der Schweiz vom Parlament her kommen oder auch direkt vom Volk, falls interessierte Bürger (damals) 50.000 Unterschriften sammelten und entweder einen ausformulierten Vorschlag oder eine Anregung für eine Totalrevision der Verfassung einreichten.
Dieses einzigartige und einmalige Konzept der Wirtschaftsverfassung ermöglicht es dem Volk auch heute, den Ordnungsrahmen für die Wirtschaft direkt mitzugestalten, weiterzuentwickeln und laufend den aktuellen Bedürfnissen anzupassen. Von den über 600 gesamtschweizerischen Volksabstimmungen, die seit 1874 bis heute stattgefunden haben (von denen ungefähr 200 über Volksinitiativen ausgelöst wurden) betrafen etwa hundert Abstimmungen Fragen der Wirtschaft und der Wirtschaftsordnung. Darin ging es um das Arbeitsverhältnis, Gesundheitsschutz, die wöchentliche Höchstarbeitszeit, Ferien, Mitbestimmung, Pensionskassen, Unfallversicherung, Mindestlohn, Berufsbildung, Managerlöhne und manches mehr. Es gab eine Vielzahl von Vorlagen zur Landwirtschaft. Es wurde abgestimmt über Themen der Krisenbewältigung und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Mieterschutz, Konjunkturpolitik und die Förderung einzelner Wirtschaftszweige. Abgestimmt wurde über aussenwirtschaftliche Themen wie zum Beispiel über den Freihandelsvertrag mit der EG von 1972. Abgestimmt wurde auch immer wieder über Fragen der Steuern, des Geldes, der Goldreserven und der Währungsverfassung. – Dabei ist bemerkenswert, dass weder im Bund noch in den Kantonen neue Steuern oder deren Erhöhung eingeführt werden können ohne obligatorische Volksabstimmung.
Eines muss hier noch hinzugefügt werden: Wenn man die Volksabstimmungen in den 2600 Gemeinden und in den 26 Kantonen miteinbezieht (wo zum Beispiel über die Einkommens- und Vermögenssteuern, Gewerbeordnung und Ladenschlussgesetze abstimmt wird), sind es wohl Zehntausende von Volksabstimmungen, die den Ordnungsrahmen für die Wirtschaft der Schweiz im Grossen wie im Kleinen bestimmen und weiterentwickeln. Niemand hat sie gezählt.
Zahlreiche Wirtschaftsabstimmungen in den 1930er Jahren – ein wahrer Härtetest für die direkte Demokratie
In der Geschichte des Bundesstaates gab es eine Zeitspanne mit besonders vielen Wirtschaftsabstimmungen, die es wert sind, genauer betrachtet zu werden. In den 1930er Jahren war die Weltwirtschaft aus den Fugen geraten. Vieles funktionierte nicht mehr. Grosse Länder wie die USA oder Deutschland hatten eine Arbeitslosigkeit von 20 und mehr Prozent. Hitler gelang es, diese Situation auszunützen und die Macht zu erobern. Auch in der Schweiz waren die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die soziale Not gross.
Es ist gut nachvollziehbar, dass sich die Bürger in dieser desolaten Situation Gedanken machten, ob die Wirtschaft nicht grundsätzlich neu organisiert und die liberale Wirtschaftsverfassung über Bord geworfen werden müsste. Wie oben bereits erwähnt, waren die politischen Gegensätze in keiner Zeit so gross und die wirtschafts- und ordnungspolitischen Vorstellungen der verschiedenen politischen Lager von rechts bis links so verschieden. Liberale, Konservative, Sozialdemokraten, Gewerkschaften, Freisinnige, Katholisch-Konservative, Bürgerliche, Arbeiter und Unternehmer, Kommunisten, Frontisten usw. – aus diesen Kreisen stammten in diesen Jahren zehn stark unterschiedliche Volksinitiativen, von denen manche das Wirtschaftsleben auf den Kopf und die Wirtschaftsverfassung auf einen neuen Boden stellen wollten. Zwei Initiativen hatten das Menschenrecht «Recht auf Arbeit» zum Thema, eine wollte staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme ermöglichen, eine andere mit einer staatlich gelenkten Wirtschaft die Krise bekämpfen, eine andere verfolgte ständestaatliche Ziele und wollte neben dem Parlament einen Wirtschaftsrat einrichten, der die Angelegenheiten der Wirtschaft regelt, wiederum eine andere wollte die Wirtschaft nach sozialistischen und mehr genossenschaftlichen Grundsätzen umbauen, etliche wollten die direkte Demokratie im Bereich der Wirtschaft stärken, für andere war sie ein Auslaufmodell, usw. – Kann man ein Land so überhaupt noch führen, musste sich der Bundesrat damals gefragt haben. – Ja, man kann. Während in den umliegenden Ländern sich die politischen Kontrahenten Strassenschlachten lieferten und mancherorts totalitäre Regime eingerichtet wurden, wurden in der Schweiz Unterschriften gesammelt – in allen politischen Lagern – und das nicht zu knapp. Es kam zu zahlreichen Volksabstimmungen, die zu einem wahren Härtetest für die direkte Demokratie und für die liberale Wirtschaftsverfassung wurden.
Würde die Schweiz in der angespannten Situation diesen Test bestehen und sich wieder auf einer gemeinsamen Linie finden? Würden der Zusammenhalt und der soziale Friede gewahrt bleiben? Dazu mehr in Teil 3 der Artikelfolge.     •


Die Bedeutung der direkten Demokratie zur Sicherung des sozialen Friedens (Teil 3)

Wie schützt man die direkte Demokratie in schwierigen Zeiten?
von Dr. rer. publ. W. Wüthrich

Der Leser hat in Teil 2 dieser Artikelfolge die Wirtschaftsverfassung der Schweiz in der Bundesverfassung von 1874 kennengelernt. Sie wird in ihrem Kern auch heute von drei Säulen getragen: 1. Von der Handels- und Gewerbefreiheit (heute Wirtschaftsfreiheit) als Freiheitsrecht des Bürgers; 2. vom Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit als Leitidee für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung und 3. von der direkten Demokratie – als Mitsprache des Volkes, um die Eckpunkte des Ordnungsrahmens festzulegen und um die Weichen für die Zukunft zu stellen. Die Zwischenkriegszeit mit der grossen Wirtschaftskrise der 1930er und auch die Zeit des Zweiten Weltkriegs waren besondere Epochen, weil hier die Grundlagen der Wirtschaftsverfassung zur Diskussion standen. Es kam zum Friedensabkommen in der Metallindustrie und zu insgesamt zehn Volksinitiativen: Allein in fünf ging es um den Erhalt der direkte Demokratie – insbesondere im Bereich der Wirtschaft. Die anderen fünf Initiativen warfen grundsätzliche Fragen der Ökonomie auf. Taugen die Ideen von Adam Smith noch in dieser schweren Zeit? Oder ist John Maynard Keynes die neue Lichtgestalt, die den Weg in die Zukunft zeigt? Oder haben Karl Marx oder der Papst Ideen, wie die schwere Wirtschaftskrise zu lösen ist? Lässt sich das Menschenrecht «Recht auf Arbeit» in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung umsetzen? Wenn ja, wie? Über solche Fragen wurde heftig diskutiert und gestritten und schliesslich abgestimmt.
In den folgenden Zeilen geht es als Einleitung um den Erhalt der direkten Demokratie in schwierigen Zeiten. Die weiteren Themen folgen im nächsten Artikel.

Ist direkte Demokratie im Bereich der Wirtschaft möglich?

Zweifel oder gar Angriffe auf die direkte Demokratie kamen nach dem Ersten Weltkrieg nicht etwa von Extremisten, sondern vom Bundesrat und aus dem Parlament. Mancher Bundespolitiker warf die Frage auf: Ist das Volk auch in schwierigen Zeiten wirklich in der Lage, in anspruchsvollen und manchmal komplizierten Fragen der Wirtschaft direkt mitzureden und diese auch zu entscheiden?
Die verfassungsmässige Ausgangslage dieses Streits, der 30 Jahre lang andauern sollte, war folgender.
Art. 89 der Bundesverfassung von 1874 regelte das fakultative Referendum wie folgt:
«Bundesgesetze sowie allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse, die nicht dringlicher Natur sind, sollen überdies dem Volk zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden, wenn es von 30000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder von acht Kantonen verlangt wird.»
Das an sich sehr wichtige Detail der dringlichen Bundesbeschlüsse in der Verfassung wurde lange Zeit gar nicht beachtet, weil es bis zum Ersten Weltkrieg praktisch nie zur Anwendung kam. Das änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg.
Bundesrat und Parlament erklärten mehr und mehr Wirtschaftsvorlagen als dringlich und entzogen sie dem Referendum und der Entscheidung des Volkes. Problematisch war, dass nirgends genau definiert war, was dringlich eigentlich heisst. Die dringlich erklärten Vorlagen waren in der Regel auf zwei oder drei Jahre befristet. Die Frist wurde jedoch nach Ablauf häufig immer wieder erneuert, so dass eine solches Gesetz oder eine Verordnung oft jahrelang in Kraft blieb – ohne Volksabstimmung. Das widersprach dem Grundprinzip der direkten Demokratie. Dazu Staatsrechtsprofessor Alfred Kölz in seinem Werk «Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte» von 2004: «Es wurde Recht gesetzt, das ohne vollständige Legitimation jahrelang in Kraft blieb.» Er zählte für die 1920er und 30er Jahre 151 Vorlagen, die vom Parlament als dringlich erklärt wurden und so am Volk vorbei ohne Referendum in Kraft gesetzt wurden, und die – was besonders auffiel – ausschliesslich wirtschaftlicher Art waren. In den Jahren 1929 bis 1933 allein waren es deren 92. Aus der «Hintertüre», die es dem Parlament erlaubte, eine Vorlage ohne Volksabstimmung in Kraft zu setzen, war ein riesiges «Scheunentor» geworden. Dazu Alfred Kölz: «Somit war ein erheblicher Teil der wirtschaftsrechtlichen Bundesbeschlüsse auf dreifache Weise nicht verfassungskonform: Sie wurden dem Referendum entzogen, widersprachen dem Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit und standen der föderalistischen Kompetenzordnung entgegen.» (S.768) Der hauptsächliche Grund für diese verfassungswidrige Praxis lag – nach Kölz – wohl darin, dass man die wirtschaftlichen Massnahmen nicht der «Zufälligkeit eines Volksentscheides» aussetzen wollte. Dies kam auch damals in einer Nationalratsdebatte deutlich zum Ausdruck. (Protokoll Nationalrat 1933, S.217) Man müsse aus Sicht der Volksrechte – so Kölz – von einem «Teilzusammenbruch des politischen Systems» sprechen.
Einige Beispiele: Um den Detailhandel zu schützen, wurde 1934 die Neueröffnung von Warenhäusern verboten. Diese Massnahme war eindeutig gegen Gottlieb Duttweiler gerichtet, der begonnen hatte, die Migros aufzubauen. Gottlieb Duttweiler hätte als profilierte Persönlichkeit in Wirtschaft und Politik mit Sicherheit dagegen das Referendum ergriffen. Es war ihm jedoch verwehrt, weil diese Massnahme vom Parlament als dringlich eingestuft wurde. Mit demselben Manöver wurden die Einfuhren von Waren beschränkt, die Zölle erhöht, die Eidgenössische Darlehenskasse errichtet, Preise überwacht, private Bahnen und Schiffsunternehmen subventioniert, die Uhren- und die Stickerei­industrie unterstützt und vieles mehr. Die Beschlüsse waren zwar jeweils befristet, wurden dann teilweise immer wieder erneuert. Gottlieb Duttweiler liess sich vom behördlichen Verbot nicht entmutigen und fuhr mit mobilen Migros-Verkaufswagen in die Gemeinden und städtischen Quartiere.
Der Bundesrat begründete seine Haltung 1937 im Ständerat wie folgt: «Die Wirtschaftskrise von bisher ungeahntem Ausmass hat die Grundlage der Existenz weiter Kreise der Bevölkerung erschüttert und das Fundament unserer Wirtschaft untergraben, so dass eine schwere Gefahr unser Land bedroht. In derartigen Zeiten müssen zur Erhaltung des Staatswesens ausserordentliche Massnahmen getroffen werden. Es kommt alles darauf an, dass rasch und durchgreifend gehandelt werden kann, ohne auf die Einhaltung aller normalen verfassungsmässigen Wege verpflichtet zu werden.» (zit. in Kölz 2004, S.827) Dies leuchtet ein. Um die Rechtsstaatlichkeit zu wahren und die Volksrechte zu schützen, hätte jedoch in der Verfassung ein Notstandsartikel mit einem klar geregelten Verfahren eingeführt werden müssen.
Alarm in der Bevölkerung – zahlreiche Volksinitiativen
Als die Notrechtspraxis von Bundesrat und Parlament immer grössere und krassere Ausmasse annahm, war die Bevölkerung alarmiert. Zahlreiche Volksinitiativen wurden eingereicht. Die Politik «am Volk vorbei» sollte gestoppt und dem Versuch, durch die Hintertüre die repräsentative Demokratie einzuführen, sollte ein Riegel geschoben werden. Die Initianten wurden unterstützt von einem Teil der Staatsrechtsprofessoren – allen voran der Zürcher Zaccaria Giacometti. Die Liste der fünf Volksinitiativen, die alle dieses Ziel verfolgten, beeindruckt, so dass ich sie im folgenden wiedergebe. Die vielen Bürger, die Unterschriften sammelten, wollten das Notrecht zwar nicht abschaffen, sondern so gestalten, dass die Volksrechte und die Rechtsstaatlichkeit gewahrt blieben.
1934: Ein bürgerliches Komitee reicht die Volksinitiative «Zur Wahrung der Volksrechte in Steuerfragen» erfolgreich ein. Der Bundesrat stellte sie zurück – im Polit­jargon hiess dies, er schubladisierte sie. (Sie wurde 1953(!) zurückgezogen, weil sie nicht mehr aktuell war.)
1936: Ein Komitee mit dem Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler lancierte die Volksinitiative zur «Wahrung der verfassungsmässigen Rechte der Bürger». Die Initiative wurde am 22. Januar 1939 vom Volk verworfen.
1936: Die kommunistische Partei der Schweiz sammelte Unterschriften für die Initiative «Dringliche Bundesbeschlüsse und Wahrung der demokratischen Volksrechte». Sie wurde am 20.02.1938 vom Volk deutlich verworfen – vor allem darum, weil einzelne Passagen im Text marxistisch klangen. So war die Rede vom «werktätigen Volk».
1938: Der Landesring der Unabhängigen – ebenfalls mit Gottlieb Duttweiler – reichte die Volksinitiative «Notrecht und Dringlichkeit» ein. Die Initiative wurde viele Jahre später zurückgezogen.
1938: Verschiedene Gruppierungen aus sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Kreisen sammelten für die Initiative «Einschränkung der Anwendung der Dringlichkeitsklausel» fast 300.000 Unterschriften (sechs Mal so viel wie nötig). Sie verlangte, dass für dringliche, allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse ein qualifiziertes Mehr im Parlament, das heisst Zweidrittel, zustimmen müssten und ein solcher Beschluss nur drei Jahre in Kraft bleiben dürfte. Diese Volksinitiative veranlasste den Bundesrat und das Parlament, einen Gegenvorschlag auszuarbeiten und dem berechtigten Anliegen der Initianten ein Stück weit entgegenzukommen. Dieser Gegenvorschlag setzte die Hürden für einen Notrechtsbeschluss jedoch deutlich tiefer. Das Volk stimmte am 22. Januar 1939 ausschliesslich über diesen Gegenvorschlag ab und stimmte zu. Die Volksinitiative selber wurde an diesem Tag jedoch nicht zur Abstimmung vorgelegt, was vielleicht in der ungewissen Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg den Bundesbehörden nicht allzu übel genommen werden darf. Die Initianten zogen sie nach dem Krieg zurück.
Fazit: Von den fünf Volksinitiativen, die das Notrecht reformieren wollten, kamen drei nicht zur Abstimmung, weil der Bundesrat diese hinausschob beziehungsweise weil der Zweite Weltkrieg ausbrach. Die letzte wurde 1953 zurückgezogen. Zwei Initiativen wurden verworfen. Nur ein zahnloser Gegenvorschlag des Parlamentes wurde angenommen. Es zeigte sich, dass es gar nicht so einfach war, eine überzeugende Rechtsgrundlage für das Notrecht zu finden.
Sollen Richter den Verfassungskonflikt entscheiden?
Eine weitere Volksinitiative darf hier nicht weggelassen werden. Ein Komitee mit etlichen Staatsrechtsprofessoren – darunter auch Zaccaria Giacometti und Fritz Fleiner –schlug vor, ein Verfassungsgericht einzurichten, um solche und ähnliche Konflikte zu klären. Ein Richterkollegium sollte entscheiden, was dringlich sei und was nicht. Auch dieses Komitee sammelte Unterschriften und reichte eine Volksinitiative ein. Sie kam am 22. Januar 1939 zur Abstimmung. Wir wollen keinen Richterstaat, war der Tenor der Gegner. Gerade in Hitler-Deutschland könne man beobachten, wie schnell sich Richter nach dem Zeitgeist ausrichten. Das Volk sei der beste Hüter der Verfassung und der Grundrechte. Diese Aufgabe gehöre zum Selbstbestimmungsrecht und zur Souveränität des Volkes. Man werde sie nicht aus der Hand geben. Die Stimmbürger sagten sehr deutlich mit 71 Prozent nein zu einem Verfassungsgericht. Ebenfalls nein sagten sämtliche Kantone.
Vollmachtenregime im Zweiten Weltkrieg
Im Zweiten Weltkrieg verschärfte sich die Situation weiter. Am 30. August 1939 verabschiedete das Parlament einstimmig den Vollmachtenbeschluss (Bundesbeschluss über Massnahmen zum Schutz des Landes und zur Aufrechthaltung der Neutralität), der vor allem dem Bundesrat als Exekutive weitreichende Vollmachten gab, kriegsnotwendige Massnahmen zu ergreifen und sofort in Kraft zu setzen. Bundesrat und Parlament fassten in dieser Zeit gegen 600 Vollmachtenbeschlüsse – unter Ausschluss des Referendums. Vor allem Zaccaria Giacometti verfolgte auch diese Praxis kritisch. Während im Ersten Weltkrieg das Volk über die Einführung der sogenannten Kriegssteuer (Einkommens- und Vermögenssteuer) noch abgestimmt und mit über 90 Prozent zugestimmt hatte, führte im Zweiten Weltkrieg das Parlament die Wehr- und die Warenumsatzsteuer Wust (die heutige direkte Bundessteuer und die Mehrwertsteuer) ein, ohne das Volk zu fragen. Dem Volk stand jedoch noch das Notventil der Verfassungsinitiative zur Verfügung. Die Bundesbehörden wagten es trotz Vollmachtenregime nicht, Volksinitiativen zu ignorieren, weshalb auch während des Krieges Unterschriften gesammelt wurden und Volksabstimmungen stattfanden. So wurden zum Beispiel anfangs 1943, als in Stalingrad eine der brutalsten Schlachten der Weltgeschichte tobte, in der Schweiz Unterschriften zu zwei Volksinitiativen zum Thema «Recht auf Arbeit» gesammelt. Die Soldaten im Aktivdienst halfen mit, dass die beiden Initiativen mit beeindruckender Unterschriftenzahl zustande kamen und unmittelbar nach Kriegsende darüber abgestimmt wurde.
Insgesamt hat die Bevölkerung die Einschränkung der Volksrechte während des Krieges mehrheitlich als unumgänglich akzeptiert.
Rückkehr zur direkten Demokratie
Die Debatte über das Notrecht und die Wahrung der Volksrechte lebte nach Beendigung des Krieges jedoch sofort wieder auf, weil sich der Bundesrat und das Parlament dagegen wehrten, sofort auf das Notrecht zu verzichten. Am 6. Dezember 1945 fasste die Bundesversammlung den «Bundesbeschluss über den Abbau der ausserordentlichen Vollmachten des Bundesrates». Darin wurde der Bundesrat ermächtigt, nur noch ausnahmsweise dringliche Massnahmen zu beschliessen, die «wegen ihrer Dringlichkeit nicht auf dem Weg der ordentlichen Gesetzgebung getroffen werden können». (Kölz 2004, S.780) Der Begriff «ausnahmsweise» weckte Misstrauen. Waadtländer Freisinnige und Liberale (Ligue Vaudoise) lancierten wenige Wochen später die Volksinitiative «Rückkehr zur direkten Demokratie» und reichten sie am 23. Juli 1946 ein. Ihr Text verrät die Handschrift von Professor Zaccaria Giacometti, der Mitglied im Initiativkomitee war. Der Text der Volksinitiative wurde in der Totalrevision der Bundesverfassung von 1999 unverändert übernommen. Er lautet:
Art. 165
1    Ein Bundesgesetz, dessen Inkrafttreten keinen Aufschub duldet, kann von der Mehrheit der Mitglieder jedes Rates dringlich erklärt und sofort in Kraft gesetzt werden. Es ist zu befristen.
2    Wird zu einem dringlich erklärten Bundesgesetz die Volksabstimmung verlangt, so tritt dieses ein Jahr nach Annahme durch die Bundesversammlung ausser Kraft, wenn es nicht innerhalb dieses Jahres vom Volk angenommen wird.
3    Ein dringlich erklärtes Bundesgesetz, das keine Verfassungsgrundlage hat, tritt ein Jahr nach Annahme durch die Bundesversammlung ausser Kraft, wenn es nicht innerhalb dieser Frist vom Volk angenommen wird. Es ist zu befristen.
4    Ein dringlich erklärtes Bundesgesetz, das in der Abstimmung nicht angenommen wird, kann nicht erneuert werden. 
Die Initiative traf in «Bundesbern» auf keinerlei Zustimmung. Der Nationalrat lehnte sie mit 84 zu 43 Stimmen deutlich ab, ohne einen Gegenvorschlag auszuarbeiten. Der Ständerat verwarf sie gar mit 19 zu 1 Stimmen noch klarer. Alle vier Regierungsparteien sprachen sich deutlich gegen das Volksbegehren aus. Am 11. September 1949 kam es zur Volksabstimmung, und es kam zu einer Situation, die in der Schweiz nicht so selten ist. Obwohl die gesamte Classe politique, das heisst alle grossen Parteien, das Parlament und die Regierung, sich dagegen aussprach, sagten Volk und Stände ja zur Initiative und beendeten damit die seit mindestens 20 Jahre andauernde, zermürbende Diskussion über den Schutz der direkten Demokratie in schwierigen Zeiten. Diese Volksinitiative verankerte das Notrecht in der Verfassung, das auch heute noch unverändert gilt. Sie ist ein Meilenstein und mehr noch ein Leuchtturm in der Geschichte der direkten Demokratie.
Zaccaria Giacometti – Würdigung einer grossen Persönlichkeit
Hervorzuheben und zu würdigen ist die Rolle von Zaccaria Giacometti (1893–1970). Der Zürcher Staatsrechtsprofessor, der aus der bekannten Bergeller Künstlerfamilie stammt, hat die Diskussion seit den 1920er Jahren wesentlich mitgeprägt. Giacometti verstand sich als Wächter von Freiheit und Demokratie und hat sich in seinen Werken immer wieder zur schweizerischen Eigenart bekannt. Die Argumentation des Bundesrates (wonach die Umstände Notrecht begründen) widerspreche den staatsrechtlichen Grundprinzipien der Schweiz. Er sprach von der Zersetzung ihrer föderalistischen und demokratisch-liberalen Staatsform.
Über zwanzig Jahre hatte sich Giacometti immer wieder mutig, laut und vernehmlich für die direkte Demokratie eingesetzt und einen Verfassungsartikel für das Notrecht gefordert, das die Volksrechte nicht aushebelt, sondern einbezieht. Wenn höhere Staatsraison Notstandsrecht bedinge, so müsste das Verfahren geregelt sein. Er sprach vehement von einer «chaotischen, prinzipienlosen Praxis», die zu einem «Parlamentsabsolutismus», ja zu einer «Parlamentsdiktatur» führe. Wieder und immer wieder warnte er vor dem «Missbrauch» des Dringlichkeitsrechts. Giacometti sah die Ursache darin, dass die Bundesbehörden letztlich dem Volk misstrauten und ihre Gesetze nicht durch ein Referendum gefährdet wissen wollten. Die Behörden misstrauten letztlich dem Volk. Das Referendum habe sich – so Giacometti – in unserer Staatspraxis vollauf bewährt. Es habe die notwendige Anpassung an die Bedürfnisse nicht verhindert. Das Referendum habe sich überdies «als Schutz der Kantone gegen eine starke Zentralisierung» sowie als «Kitt der nationalen Einheit erwiesen». Es sei «zweifelhaft, ob die Dringlichkeitspraxis vor dem Forum der Geschichte bestehen» könne. Die Schweiz würde mit der Preisgabe der «genossenschaftlichen, individuellen und politischen Freiheit ihren inneren Sinn verlieren. Damit fiele aber für die Eidgenossenschaft der Grund zum Leben dahin, und sie wäre infolgedessen auf die Länge wohl kaum mehr lebensfähig.»
Solche deutlichen Worte in einer Zeit, in der die Demokratie wenig geschätzt wurde, müssen auch heute nachdenklich stimmen. Giacometti wurde in den 1950er Jahren zum Rektor der Universität Zürich berufen.
(Mehr dazu: Giacometti Zaccaria, Staatsrecht der Kantone, Zürich 1940, S. 552f, S. 769, S. 776. Alfred Kölz, Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte S. 768ff. Andreas Kley, Von Stampa nach Zürich – Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, sein Leben und Werk und seine Bergeller Künstlerfamilie.)
Lebendige demokratische Kultur
Eines muss hier angefügt werden: Giacometti konnte seine massive Kritik an der Politik des Bundesrates und des Parlamentes äussern, ohne behelligt zu werden. Die Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit waren durch das Notrecht nicht tangiert, was in diesen Zeiten überhaupt nicht selbstverständlich war. Auch im Zweiten Weltkrieg gab es zwar Ansätze, die Pressefreiheit einzuschränken, um die Machthaber in Berlin nicht zu provozieren, wie der Bundesrat es begründete. Im allgemeinen blieb aber auch in diesen Jahren die Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit gewahrt.
Die rechtsstaatlich abgestützte Regelung des Notrechts – als Resultat der Volksinitiative von 1949 – bedeutete einen grossen Lernschritt in der Geschichte der direkten Demokratie. Diese grosse Tat wäre nie möglich gewesen, hätten die Bürger und Bürgerinnen nicht immer wieder zum Ausdruck gebracht, wie wichtig ihnen die Volksrechte sind. Die Zahl der Unterschriften, mit denen in den 1930er Jahren die meisten Volksinitiativen eingereicht wurden, ist dafür Beweis. Sie war oft ein Vielfaches der in der Verfassung verlangten Zahl. Wenn es um die Erhaltung der direkten Demokratie ging, sammelte die gesamte Bevölkerung mit – sogar die moskauhörigen Kommunisten und die auf Deutschland ausgerichteten Frontisten. Selbst eine verlorene Abstimmung war schnell vergessen und liess den interessierten Bürger bald an das nächste Projekt denken, mit dem man in der Welt etwas bewegen wollte. – Dieses gemeinsame Anliegen erwies sich als Klammer, die alle Bevölkerungskreise zusammenhielt und am gleichen Strick ziehen liess. Dabei bewegt das «Unterschriftensammeln» die Menschen auch gefühlsmässig. Man wird aktiv, spricht mit seinen Mitbürgern und versucht sie zu überzeugen. Die Politik wird so zu etwas Lebendigem, an der die Menschen unmittelbar beteiligt sind und Mitverantwortung tragen. Die Führer-Ideologie Hitlers, die die Verantwortung zu 100 Prozent an eine übergeordnete Person oder Instanz übertrug und den einzelnen Bürger zur absoluten Gefolgschaft verpflichtete, hatte deshalb in der Schweiz nie eine Chance.
Wer die Debatte über die direkte Demokratie in den 1930er Jahren verfolgt, denkt unweigerlich an die laufende Diskussion heute. Während die Behörden damals immer wieder die schwierigen Zeitumstände vorbrachten, um ohne Volk oder am Volk vorbei zu entscheiden, so sind es heute andere Argumente wie die «Menschenrechte», das «Völkerrecht», die Verträge mit der EU und anderes mehr. Es braucht auch heute viele Bürger, die sich mit Herzblut für die direkte Demokratie einsetzen, wie es Zaccaria Giacometti damals über Jahrzehnte in hervorragender Weise getan hatte.
Test für das neue Verfahren in der Hochkonjunktur
Die neue Regelung des Notrechts sollte in der Praxis bald getestet werden und Zaccaria Giacometti noch erleben, wie Bundesrat und Parlament zahlreiche notrechtliche Vorlagen nach dem neuen Verfahren behandelten. Viele erwarteten 1949 eine Wirtschafts­entwicklung wie nach dem Ersten Weltkrieg – mit Inflation und einer zögerlichen Erholung. Es kam ganz anders. Ein nie dagewesener Wirtschaftsaufschwung trat ein, und die Behörden waren bald mit den Exzessen einer boomenden Wirtschaft beschäftigt. In den 1960er Jahren waren im ganzen Land zeitweise weniger als 100 Personen als arbeitslos registriert. Wer seine Stelle verlor, fand meistens innert Stunden eine neue und konnte dabei unter zehn Angeboten auswählen. Überstunden wurden zu einem Dauerzustand, der das Familienleben belastete. Ökonomen sprachen von Konjunkturüberhitzung und von Überbeschäftigung. Hunderttausende von ausländischen Arbeitskräften wurden zugezogen, um den Wirtschaftsmotor am Laufen zu halten – zuerst aus Österreich, dann aus Italien und später aus anderen südlichen Ländern. Die Wohnungsnot nahm zeitweise dramatische Ausmasse an. Die gesamte Infrastruktur wie Strassen, Kanalisation, Schulen, der öffentliche Verkehr und vieles mehr genügten den gestiegenen gesellschaftlichen Ansprüchen und der stark wachsenden Wirtschaft bei weitem nicht mehr. Neue Schulen und Kläranlagen mussten eingerichtet, der öffentliche Verkehr modernisiert, die Autobahnen gebaut werden und vieles mehr. Die Behörden waren in hohem Masse gefordert. Die Gewässerverschmutzung zum Beispiel war so schlimm geworden, dass man im Zürich- oder im Luganersee gar nicht mehr baden konnte. Infolge der steigenden Nachfrage im In- und Ausland stiegen auch die Preise massiv, so dass die Inflation bedrohliche Ausmasse annahm und Ende der 1960er Jahre auf 12 Prozent jährlich anwuchs. Flucht- und Spekulationsgelder aus dem Ausland verschlimmerten die Situation weiter.
Ganz ähnlich wie in den dreissiger Jahren griffen die Behörden wieder auf das Notrecht zurück. Nur diesmal verlief es anders: Es kam zu zehn Volksabstimmungen. Diesmal sollte nicht die Arbeitslosigkeit bekämpft, sondern der heisslaufende «Wirtschaftsmotor» abgebremst und die Konjunktur gedämpft werden. Bundesrat und Parlament erliessen zehn dringliche Bundesbeschlüsse, von denen die meisten von der Verfassung nicht gedeckt waren, und es kam jedes Mal nach kurzer Zeit zu einer Volksabstimmung:
Am 13.3.1964 erliess die Bundesversammlung zwei dringliche Bundesbeschlüsse über die Bekämpfung der Teuerung durch Massnahmen auf dem Gebiet des Geld- und Kapitalmarktes und des Kreditwesens sowie auf dem Gebiet des Baumarktes. Die beiden Beschlüsse waren auf zwei Jahre befristet und wurden am 28.2.1965 von Volk und Ständen gutgeheissen.
1964 wurde über einen Verfassungszusatz abgestimmt, der die befristete Weiterführung der Preiskontrollen ermöglichte.
1971 verabschiedete die Bundesversammlung zwei dringliche Bundesbeschlüsse – der eine zur Stabilisierung des Baumarktes und der andere zum Schutz der Währung (der die Einführung von Negativzinsen für ausländische Spekulationsgelder ermöglichte). Beide waren auf drei Jahre befristet und wurden am 4.6.1972 von Volk und Ständen gutgeheissen.
Am 20.12.1972 verabschiedete die Bundesversammlung vier dringliche Bundesbeschlüsse (die von der Verfassung nicht gedeckt waren) über die Geld- und Kreditpolitik, über die Überwachung der Preise, Löhne und Gewinne und über die Preisüberwachung. Diese vier Beschlüsse waren auf drei Jahre befristet und wurden am 2.12.1973 ebenfalls von Volk und Ständen gutgeheissen.
Am 19.12.1975 verabschiedete das Parlament zwei dringliche Bundesbeschlüsse (die von der Verfassung nicht gedeckt waren) wiederum über die Geld- und Kreditpolitik und über die Preisüberwachung. Sie wurden am 5.12.1976 von Volk und Ständen gutgeheissen.

Goldene Jahre – zufriedene Schweizer
Die Demokratie funktionierte ausgezeichnet. Es gab niemanden, der sich beklagte. Das Volk wurde zehnmal an die Urne gerufen und segnete die Massnahmen von Bundesrat und Parlament jedes Mal ab. Die Stimmbeteiligung sank zwar bei einzelnen Abstimmungen auf unter 30 Prozent – weit entfernt von den 85 Prozent anläss­lich der Abstimmung über die Kriseninitiative im Jahr 1935. Der Schweizerin und dem Schweizer und auch den Zugewanderten ging es eben mehrheitlich gut. Der Lohn stimmte. Die ständigen Überstunden belasteten zwar das Familienleben. Annehmlichkeiten im Haushalt wie Kühlschrank, Waschmaschine, für viele das erste Auto, der Fernsehapparat, grössere Wohnungen und manches mehr machten das Leben einfacher. Mehr Ferien und der Übergang zur Fünftagewoche veränderten das Leben ungefähr zu dem, wie es heute ist. Wir, die Nachkriegsgeneration, kannten das Phänomen der Arbeitslosigkeit nur noch aus den Erzählungen der Eltern und Grosseltern. Wir hatten das Privileg, in einer ganz anderen Welt aufzuwachsen.
Im Rahmen dieser Artikelfolge verabschieden wir uns wieder von den goldenen Jahren der Nachkriegszeit und gehen zurück in das Jahr 1937, als das Friedensabkommen zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden der Metallindustrie abgeschlossen wurde. Dieses Abkommen und zahlreiche Volksabstimmungen im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise haben mitgeholfen, den sozialen Frieden zu festigen – bis heute. Mehr dazu im nächsten Beitrag.    •
«Die Menschenrechte, das sind die Freiheitsrechte, sollen die Freiheit und Würde der Menschen gegenüber der Staatsgewalt schützen, die Entfaltung der Persönlichkeit ermöglichen und damit einen rechtlichen Damm gegen die Aktualisierung der Staatsallmacht bilden. […] Ja, die Schweiz bildet einen einzig dastehenden Fall von Demokratie, wo das Volk als Gesetzgeber selbst Hüter der Menschenrechte ist, und sie erbringt damit in schönster Weise den lebendigen Beweis der Existenzmöglichkeit eines echten, eines freiheitlichen demokratischen Staates.»
aus der Festrede «Die Demokratie als
Hüterin der Menschenrechte»
von Rektor Zaccaria Giacometti anlässlich der 121. Stiftungsfeier der
Universität Zürich im Jahr 1954

Die Bedeutung der direkten Demokratie als Sicherung des sozialen Friedens (Teil 4)

Das Friedensabkommen vom 19. Juli 1937 in der Maschinen- und Metallindustrie
von Dr. rer. publ. W. Wüthrich

Ein kurzes Résumé zu Beginn: In Teil 1 dieser Artikelfolge (Zeit-Fragen vom 26.5.2015) wurde aufgezeigt, wie sich in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs die Spannungen zwischen der Arbeiterschaft und ihren Organisationen und der politischen Führung der Schweiz immer mehr verschärften und schliess­lich im November 1918 der Generalstreik ausgerufen wurde. Nach dieser Staatskrise haben zahlreiche Volksabstimmungen beigetragen, den sozialen Frieden herzustellen.
Teil 2 (Zeit-Fragen vom 9.6.2015) ist zu den Wurzeln unserer Wirtschaftsverfassung vorgedrungen und hat die Bedeutung der direkten Demokratie für eine friedliche wirtschaftliche Entwicklung betont.
Teil 3 (Zeit-Fragen vom 23.6.2015) hat aufgezeigt, wie Bundesrat und Parlament nach dem Ersten Weltkrieg die Volksrechte im Bereich der Wirtschaft allzuoft über das Notrecht aushebelten und wie die Bevölkerung sich dagegen wehrte.
Teil 4 thematisiert nun das Friedensabkommen von 1937 zwischen den Verbänden der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Metallindustrie und seine Bedeutung für die Schweiz. Aber auch für jedes andere Land wäre eine solche Entwicklung wünschenswert.

Vorgeschichte: Volksabstimmungen als Alternative zum Klassenkampf
In der Schweiz haben die Arbeiter in den Monaten und Jahren nach dem Generalstreik immer wieder erlebt, dass ihre Anliegen von der Gesamtbevölkerung ernst genommen wurden und sie in den Abstimmungen obsiegten. Die 48-Stunden-Woche und die Einführung des Proporzsystems (mit dem die Sozialdemokraten ihre Sitze im Nationalrat verdoppeln konnten) sind Beispiele dafür. Die Zahl der Streiks nahm ab und die Angelegenheiten der Arbeitswelt wurden mehr und mehr über Gesamtarbeitsverträge geregelt. Der Streik blieb aber bis weit in die Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre die Hauptwaffe der Gewerkschaften.
Aber auch in dieser Zeit kam es zu zahlreichen Volksabstimmungen, in denen die Arbeiter erlebten, dass ihre Anliegen von der Gesamtbevölkerung ernst genommen wurden. Dazu zwei eindrückliche Beispiele: Der Bundesrat verfolgte damals die Politik des «guten Hausvaters», der es vermeidet, Schulden zu machen, und die Ausgaben auf die Einnahmen abstimmt. Weil die Steuern in der Krise eingebrochen waren, wollte er die Löhne beim Bundespersonal herabsetzen. Zudem würden tiefere Löhne ganz allgemein die Kosten senken und die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Produkte im Ausland stärken. Er begründete dies dem Personal gegenüber wie folgt: Die Preise seien ja in der Deflation gesunken, und die Kaufkraft des Geldes sei somit gestiegen, also könne man auch die Löhne senken. Die Gewerkschaften waren begreiflicherweise damit nicht einverstanden, ergriffen das Referendum, sammelten fast 300000 Unterschriften (zehnmal mehr als verlangt). 80 Prozent der Stimmberechtigten gingen am 28.5.1933 an die Urne, und die Gewerkschaften bekamen recht. Man beachte: Selbst gegen die Lohn­politik der Regierung konnte in der Schweiz damals das Referendum ergriffen werden. Ein weiterer Erfolg kam hinzu. 1934 lancierten die Gewerkschaften und die Sozial­demokraten eine Volksinitiative, die sogenannte Kriseninitiative. Sie sammelten innert sechs Monaten achtmal so viele Unterschriften wie verlangt und erlebten, dass gar 85 Prozent der Stimmberechtigten an die Urne gingen. Ihre Volksinitiative wurde zwar abgelehnt, erreichte aber eine hohe Zustimmung und hatte eine Wirkung auf die spätere Reform der Wirtschaftsverfassung. Die Arbeiter erlebten auch in diesen Jahren immer wieder, dass sie dazugehörten und dass Klassenkampf und Klassendenken in der direktdemokratischen Schweiz nicht mehr nötig waren.
Friedensabkommen von 1937 – Vorgeschichte
Unmittelbar nachdem sich die Sozialdemokraten zur militärischen Landesverteidigung bekannt hatten, ging Konrad Ilg, der Präsident des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbandes SMUV, auf Ernst Dübi, den Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Schweizerische Maschinen- und Metallindustrieller ASM, zu und schlug vor, die Beziehung zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden auf einen neuen Boden zu stellen. Konrad Ilg, aufgewachsen im thurgauischen Salenstein, war ein Schlosser, der sich leidenschaftlich für die Interessen der Arbeiter einsetzte. Schon als junger Arbeiter organisierte er einen Streik für die Bauarbeiter und gründete in Lausanne die Gewerkschaft der Metallarbeiter. Er studierte mit Vorliebe die Schriften von Pierre Proudhon und des französischen Sozialisten Jaurès, dessen tiefe Menschlichkeit ihn beeindruckte. 1909 wurde er als 32jähriger Sekretär des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbandes SMUV, 1917 – 8 Jahre später – Präsident. 1918–1919 und 1922–1947 war er für die Sozialdemokraten im Nationalrat.
1918 war Konrad Ilg Vizepräsident im Oltener Aktionskomitee, das den Generalstreik organisierte. Seine späteren Stellungnahmen und Vorträge lassen darauf schliessen, dass er hier mässigend auf allzu revolutionär gesinnte Kollegen eingewirkt hat. Vor allem widersprach er marxistisch orientierten Kollegen, die die Auffassung vertraten, dass zwischen Arbeit und Kapital ein unüberbrückbarer Gegensatz bestehe. Das Gegenteil sei wahr, nämlich dass zwischen beiden Gruppen eine wechselseitige Interessengemeinschaft bestehe. In jedem Betrieb flössen die Mittel, die die Arbeiterschaft zum Leben brauche, und die Mittel, die der Betrieb für seine Existenz und für seinen Aufbau benötige, aus der gleichen Quelle – nämlich dem Verkauf der gemeinsam im Werk erzeugten Produkte. Beide Seiten seien gleichermassen an einem erfolgreichen Verkauf interessiert. Diese Einsicht sei um so wichtiger, weil die Schweiz die Rohstoffe für ihre Industrieprodukte zur Gänze im Ausland kaufen müsse und diesen Nachteil einzig mit einer höheren Qualität kompensieren könne. Alle – Unternehmer, Arbeiter, Kader – müssten zusammenarbeiten und die Leistungsfähigkeit des Betriebes sichern.
Mit dieser Einstellung ging Konrad Ilg in die Vertragsverhandlungen mit dem Arbeitgeberverband. Sein Gegenüber war Ernst Dübi, Direktor von Von Roll in Gerlafingen – in der Armee Oberst und Chef der Artillerie im 4. Armeekorps. Ernst Dübi wirkte seinerseits auf Veränderungen auf der Arbeitgeberseite hin. Ihm war es ein Anliegen, dass mancher Arbeitgeber vom «Herr im Haus»-Standpunkt abrückt. Diese sollten die typischen «Arbeitersorgen» wie Lohn, Arbeitszeit, Ferien, Versicherungen und anderes nicht mehr defensiv als überspannte Ansprüche einer Gegenpartei wahrnehmen, sondern in ihnen wichtige Faktoren erkennen, die die Qualität der Produkte verbessern und die Existenz des Unternehmens sichern.
Beide – Konrad Ilg und Ernst Dübi – leiteten einen Gesinnungswandel, mehr noch einen Kulturwandel in der Beziehung zwischen Arbeitgebern und -nehmern ein. Diese sollten sich nicht mehr als Über- und Untergeordnete in einer sozialen und beruflichen Hierarchie gegenübertreten, sondern als Gleichberechtigte begegnen und menschlich auf gleicher Stufe verkehren. Sie leiteten damit eine Entwicklung ein, die bis heute anhält. Heute spricht niemand mehr von Arbeitern und Angestellten – sondern von Mitarbeitern. Das Friedensabkommen von 1937 war ein erster und grosser Schritt in diese Richtung. Es erleichterte das Zusammenrücken in einer bedrohlichen Zeit. 1942 erhielten Konrad Ilg und Ernst Dübi gemeinsam die Ehrendoktorwürde der Universität Bern.
Das Friedenabkommen wurde in der Bevölkerung mehrheitlich begrüsst. Nur die Kommunisten hielten an ihrer Meinung fest, dass der Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital unüberbrückbar sei. Dieses Abkommen wurde zum Modell für zahlreiche Gesamtarbeitsverträge bis heute. In den folgenden 20 Jahren wurden in allen Industriezweigen des Landes nicht weniger als 1500 Gesamtarbeitsverträge abgeschlossen, die alle die Verbesserung der Lebensverhältnisse zum Inhalt hatten. Während in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg noch ungefähr 90000 Arbeitstage pro Jahr wegen Streiks verlorengingen, sank diese Zahl in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gegen null, obwohl es in der Hochkonjunktur (in der die Auftragsbücher voll sind) eigentlich leichter wäre, mit einem Streik Druck auf die Arbeitgeber auszuüben.
Bewährungsprobe für das Friedens­abkommen nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Vertragspartner hatten in den Verhandlungen zum Friedensabkommen abgemacht, nicht nur auf Streiks zu verzichten, sondern die Fragen des Arbeitsverhältnisses vermehrt im Rahmen von Gesamtarbeitsverträgen zu regeln – auch Fragen, die zuvor gesetzlich geregelt waren. Gesamtarbeitsverträge waren flexibler als das Fabrikgesetz, man konnte dezentral vorgehen und auch betriebliche und regionale Unterschiede berücksichtigen – ganz nach dem Subsidiaritätsprinzip: Ins Gesetz gehören nur Fragen, die die Sozialpartner nicht selber lösen können.
Zahlreiche Abstimmungen und Volksinitiativen haben im Vorfeld des Friedensabkommens von 1937 die Annäherung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden begünstigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg muss­te das Abkommen jedoch eine ernste Bewährungsprobe bestehen. Ausgelöst wurde diese Krise ausgerechnet durch eine Volksinitiative. Die damalige Partei des Landesrings der Unabhängigen lancierte 1954 eine Initiative zur Einführung der 44-Stunden-Woche. Sie sollte den Einstieg in die 5-Tage-Woche ermöglichen. Die reguläre Arbeitszeit in der Industrie betrug damals 48 Stunden an 6 Tagen. Gottlieb Duttweiler, Gründer und Patron der Genossenschaft Migros, galt als Vater dieser Initiative, so dass diese in den kommenden Auseinandersetzungen als «Duttweiler-Initiative» bezeichnet wurde. Erstaunlich war, dass dieser Vorstoss zur Arbeitszeitverkürzung von Arbeitgeberseite kam. Die Migros ist heute der grösste Arbeitgeber in der Schweiz.
Duttweiler wollte die Bundesverfassung mit folgendem Satz ergänzen: «Die ordentliche Arbeitszeit in den Fabriken darf 44 Stunden nicht überschreiten. […] Die Vorschrift hat ein Jahr nach der Annahme durch die Volksabstimmung in Kraft zu treten.» Das Fabrikgesetz hätte nach einer Annahme entsprechend geändert werden müssen. Duttweiler knüpfte hier als Arbeitgeber an eine lange Tradition der Arbeiterbewegung an, die so oft am 1. Mai für den 8-Stunden-Tag demonstriert hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte das Volk zweimal über die 48-Stunden-Woche im Fabrikgesetz abgestimmt und beide Male mit Ja. Die Duttweiler-Initiative fügte sich scheinbar nahtlos in diese Tradition ein, stiess jedoch beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB auf keine Gegenliebe. Walter Steiner, SGB-Präsident, wies sein Ansinnen zurück. Die Zeiten hätten sich seit Abschluss des Friedensabkommens geändert.
Walter Steiner war ein enger Mitarbeiter von Konrad Ilg und hatte mit ihm 1937 die Verhandlungen über das Friedensabkommen geführt. Nun sagte Steiner nein zur Einladung von Gottlieb Duttweiler, sich an der Unterschriftensammlung zu beteiligen, und präzisierte: Das sei kein Nein zur 44-Stunden-Woche, sondern ein Nein zu einer zentralistischen, einheitlichen Lösung. Die 44-Stunden-Woche könne nicht mehr von oben mit staatlichem Zwang über eine Gesetzesänderung herbeigeführt werden. Die Gewerkschaften würden in der Tradition des Friedensabkommens Verhandlungen führen, die das Ziel erreichen würden – auch wenn dies mehr Zeit beanspruche als eine Gesetzesänderung. Dieser Weg sei viel flexibler und würde die unterschiedlichen Verhältnisse in den verschiedenen Branchen und Betrieben berücksichtigen. Das sei der Weg, den die Gewerkschaften 1937 gemeinsam mit den Arbeitgebern beschlossen hätten und an dem sie festhalten würden.
Die Frage war nun: Würden die Stimmbürger, also auch die Gewerkschafter, in der Volksabstimmung dem Weg über die Gesamtarbeitsverträge zustimmen und die Verfassungs- und Gesetzesänderung ablehnen, die wahrscheinlich schneller zum Ziel führen würde? Die Arbeitgeber sprachen damals lieber über Lohnerhöhungen als über die Verkürzung der Arbeitszeit, waren doch die Auftragsbücher damals übervoll und die Zahl der zulässigen Überstunden ausgereizt. Der freie Samstag war aber für viele sehr verlockend. – Der Ausgang dieser Abstimmung würde Weichen stellen. Ein Ja hätte sofort neue Volksinitiativen zur Folge gehabt, die auf diesem Weg die Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer hätten verbessern wollen.
SGB-Präsident Walter Steiner musste gegen einige Widerstände vor allem in den eigenen Reihen ankämpfen, bis die Delegiertenversammlung des Gewerkschaftsbundes die Nein-Parole für die Abstimmung beschloss. Das Volk gab Steiner jedoch recht – und lehnte am 26.10.1958 die Duttweiler-Initiative mit 65% Nein-Stimmen klar ab. In diesem Ergebnis kam zum Ausdruck, dass die grosse Mehrheit der Bevölkerung den Weg des SGB-Präsidenten unterstützte und sich bewusst war, was das Friedensabkommen für die Schweiz bedeutet. Die Arbeitszeit wurde trotz des Volks-Neins in den Jahren nach 1958 in unterschiedlichem Tempo weiter verkürzt und die 5-Tage-Woche eingeführt – aber eben freiwillig und flexibel im Rahmen der Gesamtarbeitsverträge und nicht von oben mit staatlichem Zwang.
Weichenstellung für die Zukunft
Die Abstimmung vom 26.10.1958 hat die Tradition des Friedensabkommens gefestigt. Es kam und kommt zwar immer wieder vereinzelt zu Streiks und auch zu Volksinitiativen, die kürzere Arbeitszeiten, längere Ferien und auch andere gewerkschaftliche Forderungen wie Mitbestimmung oder Mindestlohn auf gesetzlichem Wege durchsetzen wollen – bis heute. Das Volk stimmte aber immer wieder nein. 1976 lehnte es die 40-Stunden-Woche mit 78% Nein ab. Im gleichen Jahr fanden zwei Abstimmungen statt, die dem Bund die Kompetenz gegeben hätten, Vorschriften über die «Mitbestimmung der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen in Betrieb, Unternehmung und Verwaltung» zu erlassen. Das Volk sagte nein zur Volksinitiative und auch nein zum Gegenvorschlag des Parlaments. 1985 sagte es mit 65% nein zur Verlängerung der Ferien auf vier Wochen für jüngere und auf fünf für ältere Arbeitnehmer. 1988 sagte das Volk mit 64% erneut nein zur 40-Stunden-Woche. 2002 stimmte das Volk mit 75% nein zu einer flexiblen Reduktion der Arbeitszeit auf 1872 Stunden im Jahr – was im Durchschnitt einer 36-Stunden-Woche entsprochen hätte. 2012 – vor drei Jahren – sagten 67% der Stimmenden nein zur Initiative «6 Wochen Ferien für alle», und 2015 sagte das Volk wiederum nein zu einem gesetzlich festgelegten Mindestlohn.
Die Abstimmungsergebnisse über die Arbeitszeit wurden vor allem im Ausland gelegentlich so interpretiert, dass die Schweizerinnen und Schweizer eben fleissig seien und lieber Arbeit und mehr Verdienst als mehr Freizeit oder Ferien hätten. – Das stimmt so nicht ganz. Das Nein war immer auch ein Ja zur Tradition des Friedensabkommens von 1937. Jede Abstimmung hat diese Tradition bestätigt und verfestigt – so dass sie heute zu einer festgefügten, im Volk verankerten Institution geworden ist. Eine Rückkehr zur Kultur vor 1937 – mit Streiks und einheitlichen, gesetzlichen Regelungen – erscheint heute fast unmöglich – (obwohl die Reden der heutigen Gewerkschaftsführer manchmal anders klingen). Dabei ist es nicht so, dass die Arbeitszeit und die Ferien gesetzlich gar nicht erfasst werden. Sie sind seit einigen Jahrzehnten im Arbeitsgesetz und im OR geregelt – aber nur als Minimalstandard, der Raum lässt für weitergehende Lösungen in den Gesamtarbeitsverträgen. Und dies ist auch geschehen auf vielfältige Art und Weise.
Die Tradition des Friedensabkommens entspricht dem Schweizer Modell: Die Bevölkerung bevorzugt dezentrale und freiheitliche Lösungen, die die vielfältigen regionalen und kulturellen Unterschiede berücksichtigen. Auch werden die Bürgerinnen und Bürger selber aktiv und suchen Lösungen und Wege, so dass eine gesetzliche Regelung gar nicht nötig ist.
Nach diesen Ausführungen über das Friedensabkommen von 1937 kehren wir im fünften Teil dieser Artikelfolge erneut zurück in die 1930er Jahre, wo es in der Krise um drängende Fragen der Ökonomie und um eine grundlegende Reform der Wirtschaftsverfassung von 1874 ging. Diskutiert wurden Fragen wie: Sollen wir an der liberalen Wirtschaftsverfassung festhalten? In welchem Ausmass muss die Wirtschaft stärker vom Staat geführt und gelenkt werden? In welchem Ausmass können sich die Bürgerinnen und Bürger in der Krise selber helfen, indem sie sich zusammenschliessen, Genossenschaften bilden und selber nach Wegen aus der Krise suchen? Alles Fragen, die auch heute aktuell sind. – Bei diesen Debatten ging es immer auch um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Sicherung des sozialen Friedens. Vier Volksinitiativen spielten damals eine ganz zentrale Rolle. Dazu mehr in Teil 5 dieser Artikelfolge.    •
Quellen:
Historisches Lexikon der Schweiz

David Lasserre. Schicksalsstunden des Föderalismus, 1963 (Originaltitel «Etapes du Fédéralisme»)

Werner Wüthrich. Ökonomische, rechtliche und verbands­politische Fragen der Arbeitszeitverkürzung in der Hochkonjunktur in der Schweiz und in Österreich (Diss. 1987)

Wolf Linder, Christian Bolliger, Yvan Rielle. Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007, 2010

Diverse Schriften zum Genossenschaftswesen
Inhalt des Friedensabkommens
Die Einleitung des Vertrages lautete: «Im Bestreben, den im Interesse aller an der Erhaltung und Fortentwicklung der schweizerischen Maschinen- und Metallindustrie Beteiligten liegenden Arbeitsfrieden zu wahren, verpflichten sich (der Arbeitgeberverband und die Arbeitnehmerverbände), wichtige Meinungsverschiedenheiten und allfällige Streitigkeiten nach Treu und Glauben gegenseitig abzuklären, nach den Bestimmungen dieser Vereinbarung zu erledigen und für ihre ganze Dauer unbedingt den Frieden zu wahren. Infolgedessen gilt jegliche Kampfmassnahme wie Sperre, Streik oder Aussperrung als ausgeschlossen […].» Weitere Bestimmungen: Lohnverhandlungen sollten im Einzelbetrieb und nicht für eine ganze Branche geführt werden. Konflikte sollten in einem mehrstufigen Verfahren gelöst werden: zuerst im Betrieb, dann in den Verbänden und drittens in einer paritätisch zusammengesetzten Schlichtungsstelle von beidseitig akzeptierten Vertrauenspersonen – und zwar ohne Beizug der Politik und von staatlichen Stellen.

Die Bedeutung der direkten Demokratie zur Sicherung des sozialen Friedens (Teil 5)
Volksrechte als Instrument und Wegweiser in der Wirtschaftskrise
von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich
Ein kurzes Résumé zu Beginn: In Teil 1 dieser Artikelfolge (Zeit-Fragen Nr. 14 vom 26.5.2015) wurde aufgezeigt, wie sich in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs die Spannungen zwischen der Arbeiterschaft und ihren Organisationen und der politischen Führung der Schweiz immer mehr verschärften und schliesslich im November 1918 der Generalstreik ausgerufen wurde. Nach dieser Staatskrise haben zahlreiche Volksabstimmungen beigetragen, den sozialen Frieden herzustellen.
Teil 2 (Zeit-Fragen Nr. 15/16 vom 9.6.2015) ist zu den Wurzeln unserer Wirtschaftsverfassung vorgedrungen und hat die grosse Bedeutung der direkten Mitsprache des Volkes in Wirtschaftsbelangen für die Entwicklung der Volkswirtschaft und für die Bewahrung des sozialen Friedens untersucht.
Teil 3 (Zeit-Fragen Nr. 17 vom 23.6.2015) hat aufgezeigt, wie Bundesrat und Parlament nach dem Ersten Weltkrieg die Volksrechte im Bereich der Wirtschaft allzuoft über das Notrecht aushebelten und wie die Bevölkerung sich dagegen wehrte.
Teil 4 (Zeit-Fragen Nr. 19/20 vom 21.7.2015) hat das Friedensabkommen von 1937 in der Maschinen- und Metallindustrie und seine Bedeutung für die Schweiz dargestellt.
Teil 5 zeigt die Bedeutung der Volksrechte als Instrument zur Krisenbewältigung und zum Erhalt des sozialen Friedens in der schweren Wirtschaftsdepression der 1930er Jahre. Auch damals ging die Krise von den USA aus.
Am 25. Oktober 1929 lösten Kursstürze an der New Yorker Börse eine Weltwirtschaftskrise aus, die viele Jahre andauern sollte. Die Schweiz war ebenfalls stark betroffen. Das Volkseinkommen brach um 20 Prozent ein. Die Zahl der Arbeitslosen stieg bis 1935 auf 120 000 an – etwa 7 Prozent der Erwerbstätigen, für die Schweiz eine ausserordentlich hohe Zahl. Lediglich 30 Prozent der Erwerbstätigen waren gegen Arbeitslosigkeit versichert. Die Hauptlast der Arbeitslosenunterstützung lag bei den Gemeinden und Kantonen. Nicht wenige Menschen litten gar Hunger. Städte richteten Suppenküchen und Notunterkünfte ein. Das Ausmass der globalen ökonomischen Krise stellte alle bisherigen Krisen in den Schatten. Die Produktion der wichtigsten Industrieländer schrumpfte um 30 bis 50 Prozent. 1932 war der gesamte Welthandel nur noch ein Drittel so gross wie 1929. Die Schweiz war schon damals stark exportorientiert und deshalb stark betroffen, wenn auch die Arbeitslosigkeit von 7 Prozent im internationalen Vergleich niedrig war. Immer weniger Touristen besuchten das Land. Die Löhne und die Steuereinnahmen des Bundes sanken. Jedermann stellte sich die Frage, was nun und was tun?
Debatte unter Ökonomen: Drei Tendenzen
Angesichts der desolaten Wirtschaftssituation in vielen Ländern wurde der klassische Liberalismus, der der Wirtschaft viel Freiheit beliess, mehr und mehr in Frage gestellt. Wenn man von der kommunistischen Planwirtschaft in der Sowjetunion absieht, waren drei grosse Tendenzen zu beobachten – der Liberalismus beziehungsweise der Neoliberalismus (als erneuerter Liberalismus), eine Denkrichtung, die sich am englischen Ökonomen John Maynard Keynes orientierte und eine Politik, die Berufsständen oder Berufsgenossenschaften als Kollektiv mehr Gewicht geben wollte.
Liberale Ökonomen vertraten die Auffassung, die unerwartet aufgetretene Krise mache es notwendig, den Ordnungsrahmen für die Wirtschaft neu zu überdenken und krisentauglich zu machen. Manches müsse geändert werden, neue krisentaugliche Regeln seien nötig, und der Staat müsse in der Lage sein, sie durchzusetzen. Am Kern beziehungsweise am Grundsatz einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung hielten sie jedoch fest. Deutsche Ökonomen wie Alexander Rüstow, Walter Euken und andere prägten an der Jahrestagung des Vereins für Sozialpolitik im Jahr 1932 für diese erneuerte Art des Liberalismus den Begriff «neoliberal», der heute oft ganz anders verwendet wird – nämlich als Inbegriff für einen ungezügelten Kapitalismus. Der Verein für Sozialpolitik, der 1873 gegründet worden war, führte regelmässig Tagungen durch und ist mit Namen von zahlreichen bekannten Wissenschaftlern verbunden wie Max Weber und Walter Sombart.
Etwas anders als die liberalen Ökonomen argumentierte John Maynard Keynes. Die Wirtschaft brauche eine feste Führung. Der Staat müsse das Kommando übernehmen und energisch eingreifen. Fehlentwicklungen – wie zum Beispiel die hohe Arbeitslosigkeit – hätten Ausmasse angenommen, so dass von allein gar nichts mehr gehe und nur noch der Staat helfen könne. Dieser müsse planmässig und systematisch vorgehen – zum Beispiel auch mit Arbeitsbeschaffungsprogrammen. Der Staat soll sich antizyklisch verhalten, das heisst, er soll in der Krise mit Mehrausgaben die Nachfrage stärken und die Wirtschaft ankurbeln. Dazu sei es angebracht, sich zu verschulden und auch die Notenpresse massiv einzusetzen. Keynes prägte das Bild von einer Regierung, die als Steuermann die Wirtschaft lenkt, die Arbeit plant und für soziale Gerechtigkeit sorgt. Inbegriff dieser Politik war das Programm des US-Präsidenten Roosevelt, der mit seiner New-Deal-Politik gegen die massive Krise in den USA ankämpfte, wo die Arbeitslosigkeit zeitweise bis gegen 25 Prozent anstieg. (G. Braunberger, Keynes für jedermann, 2009)
Der Unterschied in der Betrachtungsweise liegt im Menschenbild. Liberale Ökonomen wie zum Beispiel Wilhelm Röpke trauten den Menschen mehr zu, dass sie in der Lage seien, sich selber zu organisieren, selber nach neuen Wegen zu suchen und diese auch autonom beschreiten könnten. Ein staatliches Eingreifen im Übermass sei schädlich und würde ihre Initiative und ihren Forscher- und Unternehmergeist lähmen. Der Mensch sei in seiner Individualität so vielfältig und seine Möglichkeiten im sozialen Verbund so immens, dass keine Regierung in der Welt in der Lage sei, das komplexe Geschehen wirklich zu erfassen. Eine grossräumige, zentralistische «Feinsteuerung» der Wirtschaft von oben – wie sie von «Keynesianern» oft versucht werde – sei deshalb schlicht unmöglich und werde den Menschen nicht gerecht (von Hayek). Sie schade oft mehr als sie nütze. Wer den Rezepten von Keynes folge, für den bestehe Gefahr, dass die Verschuldung in unkontrollierbare Höhen ansteige und das Geldwesen aus den Fugen gerate. Zwar sei es nötig, Rahmenbedingungen festzulegen und klare Regeln zu erlassen und diese möglichst kleinräumig auf die Bedürfnisse der Bevölkerung abzustimmen (Wilhelm Röpke). Ebenso brauche es einen starken Staat, der sie durchsetze. Ebenso brauche es einen gewissen sozialen Ausgleich und ein «Auffangnetz». Andererseits müsse sich die Regierung bescheiden und sich zurückhalten, um den Menschen vermehrt die Chance zu geben, selber aktiv zu werden, sich zusammenzuschliessen und neue Wege zu suchen. Auch in der Krise gelte es, auf die positiven Kräfte in den Menschen abzustellen.
Niedergang und Renaissance der liberalen Ökonomen
Im Verlauf der 1930er Jahre wurden die liberalen Stimmen unter den Ökonomen immer leiser, bis sie fast ganz verstummten. Der deutsche Verein für Sozialpolitik löste sich 1935 selber auf, um der Eingliederung in eine nationalsozialistische Organisation zuvorzukommen. (Er wurde nach dem Krieg neu gegründet und existiert heute noch.) John Maynard Keynes beherrschte das Feld unter den Ökonomen und in der Politikberatung fast vollständig. Sein Denken hat bis heute grossen Einfluss. Die Frage der Staatsverschuldung ist allerdings im Verlaufe der Jahrzehnte in vielen Ländern zu einem fast unlösbaren Problem angewachsen.
1938 traf sich ein ganz kleines Grüppchen von liberalen Ökonomen aus verschiedenen Ländern im Walter-Lippmann-Kolloquium in Paris und diskutierte über Wege, den Liberalismus wieder zu neuem Leben zu erwecken und inhaltlich zu erneuern. Die Deutschen Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Walter Euken und die Österreicher Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek waren dabei. Der Liberalismus brauche neue Regeln und einen starken Staat, der sie durchsetze, war auch ihr Credo. Die Diskussion drehte sich auch hier um einen neuen Namen. «Sozialer Liberalismus» und «positiver Liberalismus» wurden vorgeschlagen. Wie bereits sechs Jahre zuvor im Verein für Sozialpolitik einigten auch sie sich auf die Bezeichnung «Neoliberalismus». (Thomas Sprecher, Schweizer Monat 2013, S. 84) Die Zeit für den neuen Liberalismus sollte nach dem Zweiten Weltkrieg kommen – in verschiedenen Schattierungen. In Deutschland waren es neben den Genannten Alfred Müller-Armack und Ludwig Ehrhard, die mit ihren Ideen die soziale Marktwirtschaft und das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit prägten, und deren Denken heute als «Ordoliberalismus, «Freiburger Schule» oder als «Rheinischer Kapitalismus» bezeichnet wird.
Mit Volksinitiativen gegen die Wirtschaftskrise
In der Schweiz hatte die Diskussion um eine neue, krisentaugliche Wirtschaftspolitik schon zu Beginn der dreissiger Jahre eingesetzt. Sie war weniger theoretisch, sondern mehr praxis- und lösungsorientiert, wie es dem direktdemokratischen Modell entspricht. In welchem Ausmass soll der Bund aktiv werden, die Wirtschaft von oben lenken und die Wirtschaftsabläufe planen? Gilt es vermehrt Lösungen zu suchen, die die individuelle Freiheit geringer gewichten, und die stärker das Kollektiv betonen – wie zur Zeit der Zünfte? Oder soll sich der Staat weiterhin bescheiden und im liberalen Sinn darauf beschränken, klare Regeln zu setzen und den Menschen Raum für Selbsthilfe und Eigeninitiative geben? Kurz: Es ging um grundlegende Fragen der Wirtschafts­politik und letztendlich um eine Reform der Wirtschaftsartikel in der Bundesverfassung. Es verstand sich in der direktdemokratischen Schweiz von selbst, dass sich bald engagierte Bürger mit Volksinitiativen zu Wort meldeten. Das war auch der Fall: Insgesamt vier Initiativkomitees legten in den dreissiger Jahren und im Zweiten Weltkrieg Vorschläge auf den Tisch, wie die Wirtschaftsartikel in der Bundesverfassung zu reformieren seien.
Es gab wohl selten einen Moment in der neueren Geschichte der Schweiz, wo sich die Bevölkerung so intensiv mit der Frage beschäftigte, wie eine «weise Politik» oder wie «weise Polizeigesetze» aussehen müss­ten, um die aus den Fugen geratene Wirtschaft wieder ins Lot zu bringen. Thomas Bornhauser hatte diesen Begriff im 19. Jahrhundert geprägt. (vgl. Teil 2 der Artikelfolge vom 9.6.2015)
Volksinitiative der Gewerkschaften zur «Bekämpfung der Wirtschaftskrise» (Kriseninitiative)
Die Sozialdemokraten und Gewerkschaften forderten 1934 eine Politik ganz nach keynesianischem Vorbild. Sie wollten in ihrer Volksinitiative dem Bund auf zahlreichen Gebieten weitreichende Kompetenzen geben und zahlreiche Aufgaben übertragen, um die Krise «planmässig und systematisch» zu bekämpfen (Nationalrat Obrecht, SP-Präsident). Die Sozialdemokraten hatten in ihrem Programm einen «Plan der Arbeit». Die Wirtschaftspolitik des Bundesrates und des Parlaments sollte sich grundlegend ändern. So sollten die Behörden für Preis- und Lohnstabilität sorgen, ein Minimaleinkommen garantieren, Arbeitsbeschaffungsprogramme initiieren, Landwirtschaft, Industrie und Fremdenverkehr fördern, den Kapitalmarkt regulieren und den Kapitalexport sowie Kartelle und Trusts kontrollieren und manches mehr. Dazu könnte der Bund – so die Volksinitiative – vom Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit abweichen und sich verschulden. Die Massnahmen wären auf fünf Jahre befristet und müssten danach erneuert werden.
Diese Volksinitiative war in verschiedener Hinsicht einzigartig: Sie wurde am 15. Mai 1934 lanciert, bereits am 30. November des gleichen Jahres mit rekordhohen 334 699 Unterschriften eingereicht (50 000 Unterschriften waren verlangt) und von Bundesrat und Parlament nach nur sechs Monaten, am 2. Juni 1935 ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung gebracht. Die Stimmbeteiligung an diesem Tag betrug rekordhohe 84,4 Prozent, was zeigt, wie sehr die Wirtschaftskrise die ganze Bevölkerung beschäftigte. Aus Sicht der Volksrechte war sie jedoch problematisch. Die Bundesversammlung hätte die vielen Gesetze (die zur Umsetzung notwendig gewesen wären) «endgültig», das heisst unter Ausschluss des Referendums erlassen. Die Wirtschaftsverfassung der Schweiz hätte also ihren direktdemokratischen Kern verloren, der es bisher erlaubte, die Gesetze in einem hohen Masse auf die Bedürfnisse der Bevölkerung abzustimmen. Die Wirtschaftsverfassung hätte einen «dirigistischen Charakter» bekommen. (Alfred Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, 2004 S. 754) Zudem hätte sich der Bund stark verschulden und die Verwaltung massiv aufstocken müssen, um die vielen Aufgaben auch nur annähernd bewältigen zu können. Das Parlament und auch die Bevölkerung waren – wie bei kaum bei einer anderen Initiative – stark gespalten.
Am 2. Juni 1935 gingen fast alle an die Urne. 57,2 Prozent stimmten mit Nein. Auch in 18 der 22 Kantone gab es eine ablehnende Mehrheit. Der Wunsch, auch in Wirtschaftsfragen an der direkten Demokratie festzuhalten, hat wahrscheinlich den Ausschlag gegeben, dass die Initiative deutlich abgelehnt wurde. Aber der Ja-Anteil von über 40 Prozent war hoch. Viele haben sich wohl von der Hoffnung leiten lassen, dass der Staat es richten werde.
Korporativer Ständestaat statt Parlament und Volk
Die Kriseninitiative der Gewerkschaften war jedoch nicht allein. Es gab fast gleichzeitig eine zweite Initiative, die ebenfalls die Wirtschaft in der Verfassung auf einen neuen Boden stellen wollte. 1934 lancierten katholisch-konservative Kreise und Jungliberale eine Volksinitiative, die eine berufsständische Wirtschaftsordnung einrichten wollte, die sich in manchen Punkten von der liberalen Wirtschaftsauffassung unterschied. Weil die Initianten aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern kamen, konnten sie sich nicht auf einen gemeinsamen Text einigen, wählten die Form der «Allgemeinen Anregung» (Initianten geben nur die Richtung vor und überlassen die genaue Formulierung dem Parlament) und arbeiteten individuell verschiedene Verfassungsentwürfe aus.
Die Bewegung wurde geschwächt, weil sich auch Frontisten daran beteiligten, die in vielen Punkten antidemokratische Ansichten vertraten. Für die Jungliberalen, die bereits einen Entwurf ausgearbeitet hatten, war dies Grund, die 30 000 gesammelten Unterschriften nicht einzureichen, um nicht zusammen mit der Nationalen Front genannt zu werden. Die Volksinitiative kam trotzdem zustande. Die Nationale Front als bekannteste Organisation der Frontisten war keine Massenpartei und befand sich bereits 1934 im Niedergang. Sie beteiligte sich, um ihr Ansehen aufzubessern und ohne selber einen konkreten Vorschlag zu machen. Es gelang ihr nicht. 1935 hatte sie lediglich noch einen einzigen Nationalrat und verlor ständig Mitglieder. Im Zweiten Weltkrieg wurden ihre Zusammenkünfte verboten. (Walter Wolf, Faschismus in der Schweiz, 1969; A. Gebert, Die jungliberale Bewegung der Schweiz 1928–1938, 1981))
1935 stellte die Katholisch-Konservative Partei ihren Verfassungsvorentwurf vor: Berufsverbände sollen als Kollektiv an Stelle des Parlamentes anstehende Fragen regeln. Die damals 600 Berufsverbände sollten in sieben Branchenverbänden zusammengefasst werden:
1. Landwirtschaft, 2. Industrie, 3. Gewerbe, 4. Handel, Banken und Versicherungen, 5. Gastwirtschaften, 6. Verkehr und 7. Freie Berufe. Diese würden Delegierte in die Schweizerische Wirtschaftskammer entsenden, die an Stelle des Parlamentes Gesetze erlassen könnte. (Kölz 2004, S. 755) Unterstützung erhielten die Initianten durch die katholische Soziallehre: Papst Pius XI empfahl zeitgleich mit dem Aufkommen der kommunistischen Parteien in Europa eine Politik der sozialen Gerechtigkeit, die die Arbeit mit dem Kapital versöhnt. Auch er sah die Lösung in einer berufsständischen Wirtschaftsordnung. So hiess es in der Enzyklika «Quadragesimo anno» von 1931: «So wenig die Einheit der menschlichen Gesellschaft auf die Gegensätzlichkeit der Klassen gründen kann, so wenig kann die rechte Ordnung der Wirtschaft dem freien Wettbewerb anheim gestellt werden.»
Der Trend zum berufsständischen Staat war damals gesamteuropäisch zu beobachten und solche Ideen wurden in den meisten schweizerischen Parteien diskutiert. Selbst der Verfassungsentwurf der Jungliberalen Bewegung der Schweiz sah einen «Wirtschaftsrat» vor, der allerdings nur mit konsultativen Befugnissen ausgestattet war. Auch in den Reihen der Sozialdemokraten gab es solche Stimmen. Das vom Volk gewählte Parlament und die Volksrechte hätten an Bedeutung verloren.
Das berufsständische Wirtschaftsmodell hätte die liberale Wirtschaftsordnung in ihrem Kern verändert und zu einem autoritären Staat geführt. So äusserte sich Bundesrat Schulthess am 11. Oktober 1933 im Ständerat wie folgt: «Korporationen, wie manche sie erträumen, führen […] zur Diktatur und zur Gleichschaltung; und will man eine solche weitgehend berufständische Ordnung, dann muss man auch die Allmacht des Staates mitschlucken.» Selbst die Arbeiterschaft habe dem Bundesrat geschrieben, eine berufsständische Ordnung rieche «nach Faschismus und davon wollen wir nichts wissen». (zit. in Kölz, 2004, S. 766)
Die Volksinitiative der Katholisch-Konservativen wurde am 8. September 1935 mit 72,3 Prozent der Stimmen abgelehnt. In den katholischen Kantonen Wallis, Freiburg, Appenzell Innerrhoden und Obwalden wurde sie angenommen – aber auch nur mit knappen Mehrheiten.
Der Vorschlag, Berufsverbände zu bilden und sie in die Gesetzgebung einzubeziehen, war nicht neu. Bereits 1894 hatte das Volk über einen Artikel in der Bundesverfassung abgestimmt. Es war geplant, ein eidgenössisches Gewerbegesetz zu erlassen, das es ermöglicht hätte, Berufsgenossenschaften zu bilden, die an Stelle des Parlaments gesetzliche Vorschriften hätte erlassen können. Das Volk stimmte im Jahr 1894 mit 54 Prozent nein.
1935 – Das Volk stellt die Weichen für die direkte Demokratie
Das Jahr 1935 wurde zu einem «Schicksalsjahr der schweizerischen Demokratie» (Alfred Kölz). Das Volk zeigte sich seiner politischen Verantwortung würdig, und es lehnte beide oben vorgestellten Volksinitiativen ab. Eine Annahme hätte zu einer autoritären Ordnung geführt und die Volksrechte eingeschränkt. Das ganze politische System der Schweiz hätte sich verändert.
Die Schweiz hatte in ihrer Wirtschaftsverfassung am liberalen Prinzip – verbunden mit sozialen Komponenten – festgehalten und stand damit in den dreissiger Jahren ziemlich einzig da. In der Sowjetunion herrschte der Kommunismus, in Deutschland und Italien faschistische Staatswirtschaft, in Frankreich die Volksfront mit einer Art Wirtschaftsregierung und Österreich stand unter dem Regime einer ständestaatlichen Wirtschaftsordnung. Die angelsächsischen Länder folgten dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes, der in einem hohen Masse staatliche Intervention, Wirtschaftslenkung und Staatsverschuldung empfahl. Fast alle Ökonomen (die nicht Kommunisten waren) folgten seinem Credo.
Das Volks-Nein zu den beiden Wirtschaftsinitiativen von 1935 hatte noch eine ganz andere Wirkung. Es war ein Signal, dass die Bevölkerung die Lösung der Probleme nicht ausschliesslich von den Behörden erwartete, sondern dass die Bürgerinnen und Bürger selber viel in der Hand haben, ihre Lebensumstände zu verbessern. Es sollte sich zeigen, dass diese Anstrengungen oft nachhaltiger waren und mehr Erfolg hatten als die staatlichen Massnahmen. Zum Beispiel wurden zahlreiche Genossenschaften neu gegründet oder bisherige erweitert. Es besteht immer Gefahr, dass in politischen Diskussionen vergessen wird, welchen Beitrag zur Krisenbewältigung die Bevölkerung selber leisten kann.
Selbsthilfe und Eigenverantwortung in der Krise: die Gründung von Genossenschaften
Um die Rechtssicherheit zu verbessern, überarbeiteten der National- und Ständerat 1935 das Genossenschaftsrecht im Obligationenrecht, und es kam in den folgenden Jahren bis in die Nachkriegszeit zu einer Vielzahl von Genossenschaftsgründungen oder -erweiterungen in der Landwirtschaft, im Konsumwesen, im Wohnungsbau und in manch andern Lebens- und Wirtschaftsbereichen – und zwar in einer erstaunlichen Vielfalt. Zahlreiche Schriften über das Genossenschaftswesen wurden publiziert – ganz im Sinne der kürzlich erschienen Broschüre «Wie gründe ich eine Genossenschaft?». Bund, Kantone und Gemeinden unterstützten diese Bewegung, indem sie die Genossenschaften steuerlich begünstigten und auf mancherlei Art subventionierten. Heute gibt es in der Schweiz etwa 12  000 Genossenschaften. Drei typische Beispiele aus jener Zeit sollen die Vielfalt der Möglichkeiten andeuten, die die Bürgerinnen und Bürger haben, selber aktiv zu werden und die Rettung aus der Krise in die Hand zu nehmen.
WIR-Genossenschaft
Als sich 1934 die Wirtschaftskrise mehr und mehr zuspitzte, trafen sich sechzehn Geschäftsleute, um die WIR-Genossenschaft zu gründen. Die Banken waren in der Krise vorsichtig geworden und hielten sich in der Kreditvergabe zurück. Die Genossenschafter bauten ein eigenes Kreditsystem auf mit einer eigenen (Komplementär-) Währung – dem WIR–Franken. Die Kaufleute und Handwerker luden ihre Zulieferer und Geschäftskunden ein mitzumachen. Diese konnten bei der Zentrale zinsfrei Kredite in WIR-Franken beziehen, die diese selber wie eine Bank aus dem «Nichts» schöpfte. Dazu benötigte die Genossenschaft die Zulassung als Bank, die sie 1936 auch erhielt. Dieses Genossenschaftsgeld erleichterte Zahlungen, löste manchen finanziellen Engpass und förderte die Umsätze zwischen den Genossenschaftern, die auch über gemeinsame Messen und regelmässige Treffen miteinander in Kontakt standen und heute stehen. Das System hatte Erfolg – bis heute. Etwa 60 000 KMU – das ist ein Viertel aller Schweizer Klein- und Mittelbetriebe – haben sich diesem System angeschlossen. Die Umsätze in WIR-Franken betragen heute zwischen zwei und drei Milliarden pro Jahr. Etwa 800 Millionen WIR-Kredite sind ausstehend. 1998 eröffnete die Genossenschaft eine «richtige» Geschäftsbank – die WIR Bank, die sowohl Kredite in Schweizer- wie auch in WIR-Franken anbietet und auch Spargelder (in Schweizerfranken) verwaltet.
Bauernhülfskassen
Viele Bauern gründeten im Sinne der Selbsthilfe unzählige, verschiedenartige landwirtschaftliche Genossenschaften. Interessanterweise gab und gibt es auch solche, die nicht aus Bauern bestehen: die sogenannten Bauernhülfskassen. Ein Beispiel aus dem Kanton Zürich: 1932 gründeten die Zürcher Kantonalbank, fünf Geschäftsbanken und einige reiche Privatpersonen (die anonym blieben) die «Zürcher Bauernhülfskasse». Ihr Zweck bestand darin, den Bauern in Not zu helfen, und zwar dann, wenn die bäuerlichen Selbsthilfeorganisationen und insbesondere die Raiffeisenbanken gemäss ihren Statuten keine Kredite mehr gewähren konnten. Die «Bauernhülfskasse» rettete so in schwerer Zeit – wie der Name sagt – manchen Familienbetrieb. Sie besteht heute noch.
Abenteuer Migros
Parallel zum Niedergang der Nationalen Front im Jahr 1935 trat eine neue Partei auf das ­politische Parkett: der Landesring der Unabhängigen mit Gottlieb Duttweiler, Inhaber der Migros. Duttweiler machte sich auf den Weg, in der Wirtschaft und in der Politik der Schweiz etwas zu bewegen. Die neue Partei wurde gleich mit fünf Vertretern in den Nationalrat gewählt. Im Jahr 1940 wandelte Gottlieb Duttweiler seine Migros von einer AG in eine Genossenschaft um, indem er das Unternehmen seinen treuen Kunden schenkte. Jeder der 75 540 Kundinnen und Kunden, die eine Kundenkarte besassen und somit eingetragen waren, erhielt gratis einen Genossenschaftsanteil von Fr. 30.– und wurde Miteigentümer. Für viele kleine Lebensmittelgeschäfte brachte die Migros das Aus. Für viele Hausfrauen mit knappem Budget dagegen waren die tiefen Preise für Grundnahrungsmittel ein Segen. Zur Stärkung der staatsbürgerlichen Bildung und des geistigen Widerstandes in jener schweren Zeit schenkte Duttweiler den neuen Genossenschaftern ein Buch zum Thema «Wilhelm Tell». Es war die erste «Buchgabe», denen noch viele weitere folgen sollten. Damit begann das Abenteuer «Migros» mit stetigem Wachstum und einer eigenen Genossenschaftskultur, zu der Klubschule, Exlibris, Kulturprozent und manches mehr gehören. Heute ist Migros ein Gross­konzern und der grösste Arbeitgeber in der Schweiz.
Würdigung – Plädoyer für die direkte Demokratie
Diese Zeilen sollen mit einem Rückblick enden. Thomas Bornhauser hatte im Jahr 1830 – hundert Jahre vor der grossen Wirtschaftskrise im 20. Jahrhundert – im Kanton Thurgau die Handels- und Gewerbefreiheit als naturrechtlich begründetes Freiheitsrecht postuliert. Andere Kantone folgten ihm und auch der Bund baute die HGF als Grundrecht in die Bundesverfassung ein. (siehe Teil 2 der Artikelfolge vom 9.6.2015) «Weise Polizeigesetze», so die Worte von Bornhauser, sollten den Missbrauch verhindern. Heute lässt sich dazu Folgendes sagen: Es gibt keine ­politische Instanz, die solche «weisen Gesetze» hätte verabschieden oder gar die «ideale Wirtschaftsordnung» hätte einführen können. Sondern Thomas Bornhauser hat mit seinen Worten einen Lernprozess auf allen politischen Ebenen eingeleitet. Ein ständiges Suchen und Weiterentwickeln, bei dem in der Schweiz die Bevölkerung über die Volksrechte direkt beteiligt ist und eine ganz zentrale Rolle spielt. Die direkte Demokratie mit Initiative und Referendum ist der wohl beste Weg, um die Gesetze unmittelbar auf die Bedürfnisse der Bevölkerung abzustimmen. Die damals relativ niedrige Zahl der Unterschriften von 50 000 für eine Initiative und 30 000 für ein Referendum hat den Einbezug der Bevölkerung in den Lernprozess begünstigt. Auch heute – nach der Einführung des Frauenstimmrechts – ist diese Zahl (100 000 und 50 000) noch niedrig, wobei diese Unterschriften immer zuerst gesammelt und beglaubigt werden müssen. Auch die verlangten Unterschriften in den Kantonen und Gemeinden sind relativ niedrig.
Der heutige Zustand der Wirtschaft und die grosse Zahl der Volksabstimmungen, die im Bund seit 1848 stattgefunden haben, sind der Beweis, dass der Lernprozess oft besser funktioniert und bessere Resultate bringt, als wenn grundlegende Entscheidungen nur von einer kleinen gewählten Elite in Regierung und Parlament getroffen werden. Die Diskussionen sind intensiver und breiter abgestützt. Anregungen aus der Bevölkerung fliessen ein, die sonst nicht gehört würden. Eine Volksinitiative sensibilisiert die Politik, auch wenn sie in der Abstimmung abgelehnt wird.
Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie etwas entschieden wird, sondern auch um den Einbezug der Bevölkerung und damit um den Respekt der Politik gegenüber dem Volk als Souverän. Die Identifikation mit dem politischen Geschehen und mit der Rechtsordnung ist weit stärker, als wenn das Volk nur indirekt über Wahlen beteiligt ist. All dies erhält den sozialen Frieden und stärkt den Zusammenhalt, was in der heutigen unruhigen Welt nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Soziale Marktwirtschaft
Unsere Geschichte der Volksrechte ist nach diesem Exkurs nicht zu Ende: Angeregt von den beiden grundlegenden und wegweisenden Wirtschaftsabstimmungen im Jahr 1935, begann das Parlament mit der Reform der Wirtschaftsartikel in der Bundesverfassung. Sie sollten krisentauglich und stärker auf die Bedürfnisse der notleidenden Bevölkerung abgestimmt werden. Die Gruppierungen, die die Kriseninitiative lanciert hatten, schlossen sich zur Richtlinienbewegung zusammen, um diese Arbeiten in ihrem Sinn zu begleiten. Der Zweite Weltkrieg verzögerte diesen Prozess, so dass die Sozialdemokraten und der Landesring der Unabhängigen mit Gottlieb Duttweiler im Jahr 1943 die Gelegenheit nutzten und zwei weitere Volksinitiativen einreichten – beide zum Thema «Recht auf Arbeit», das sie auf unterschiedliche Art und Weise in der Verfassung umgesetzt haben wollten. Fast gleichzeitig wurden zwei Gruppierungen im Bereich der Sozialpolitik aktiv. Der Katholisch-Konservative Verein KKV lancierte eine Volksinitiative mit dem Thema «Schutz der Familie», die eine vermehrt familienfreundliche Politik ermöglichen sollte, und reichte sie mit 178 000 Unterschriften ein. Ebenfalls fast gleichzeitig lancierte der Kaufmännische Verband Schweiz mit 180 000 Unterschriften eine Volksinitiative mit einem konkreten Vorschlag für die Errichtung und die soziale Ausgestaltung der Alters- und Hinterlassenenversicherung, der das Volk 1925 in einer Verfassungsabstimmung bereits grundsätzlich zugestimmt hatte. Einen ersten konkreten Gesetzesentwurf hatte es jedoch 1931 in einer Referendumsabstimmung abgelehnt.
Als Folge dieser Bürgeraktivitäten mitten im Krieg sollten 1946 und 1947 fünf Volksabstimmungen stattfinden, die die Weichen zur sozialen Marktwirtschaft stellen, wie wir sie heute kennen.    •
Quellen: Alfred Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte (mit Quellenbuch), Bern 2004; 100 Jahre Sozialdemokratische Partei, Zürich, 1988; Isabelle Häner, Nachdenken über den demokratischen Staat und seine Geschichte, Beiträge für Alfred Kölz, Zürich 2003; W. Linder, C. Bolliger, Y. Rielle, Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007, 2010; Bruno Hofer, Volksinitiativen der Schweiz, 2012; Thomas Sprecher, Schweizer Monat, 2013.
A. Gebert, Die jungliberale Bewegung der Schweiz 1928–1938, 1981; Wolf Walter, Faschismus in der Schweiz. Die Geschichte der Frontenbewegung in der deutschen Schweiz, 1930–1945, 1969; diverse Unterlagen zum Genossenschaftswesen und zur Ökonomie.