2014-06-11

Ein Plädoyer für Bürgertum und Demokratie

Ausstieg aus dem Arbeitskampf – statt Streit um den Mindestlohn

von Ivo Muri, Unternehmer und Zeitforscher, Sursee
Ein Lehrer in Ungarn verdient mit etwas Glück 300 Euro pro Monat. Ein Lehrer im benachbarten Österreich erhält immerhin bereits 3 000 Euro. In der wiederum benachbarten Schweiz erhalten Lehrer 6 000 Franken und mehr. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn Lehrer in der Schweiz leisten gesellschaftlich hoch wertvolle Arbeit. Sie arbeiten für das Wohl unserer Kinder und haben hierzu auch viel in ihre eigene Ausbildung investiert. Dem können Sie sicher zustimmen. Es stellt sich jedoch die Frage: Stimmt dies nicht auch für Lehrer in Ungarn und in Österreich? Die Lehrer in Ungarn leisten doch auch einen wichtigen Beitrag für gelingendes Leben in ihrer Heimat.
Warum soll ein Lehrer in der Schweiz – so wir freie Märkte haben – mehr verdienen als ein Lehrer in Ungarn?
Es gilt doch das Prinzip der freien Marktwirtschaft.
Man mag nun einwenden, dass ein Lehrer in Ungarn halt auch tiefere Lebenshaltungskosten habe als ein Lehrer in der Schweiz. Und das gleiche gilt übrigens auch für Politiker und Staatsangestellte. Auch die verdienen in der Schweiz wesentlich mehr als in Ungarn. Und auch die haben in der Schweiz höhere Lebenshaltungskosten.
Die Gewerkschaften beziehen sich auf genau diese Lebenshaltungskosten, wenn sie einen Mindestlohn von 4 000 Franken für alle Arbeitnehmer fordern.
Die sogenannten «Unternehmerverbände» jedoch sind entsetzt. Im Jura herrschen doch andere Lebenshaltungskosten als in Zug oder Zürich. Man könne in der Schweiz keinen derart hohen Mindestlohn garantieren – sagen sie. Managerlöhne allerdings seien kein Problem. Die müsse man wegen des globalen Managermarktes halt ganz einfach bezahlen können.
Auch dieser Argumentation scheinen viele zustimmen zu können.
Was aber stimmt denn nicht, und woher kommt denn der Streit zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften tatsächlich, wenn doch beide eigentlich recht haben?
Nun, Sie wissen es, ich weiss es, und wir könnten es alle schon lange wissen.
Was nicht stimmt, sind die Wirtschaftstheorien, welche ab 1989 an unseren Universitäten und Fachhochschulen gelehrt werden.
Beginnen wir mit einem bemerkenswerten Satz aus dem Buch «Volkswirtschaftslehre» von Rolf Dubs, das alle Absolventen der Höheren Wirtschafts- und Verwaltungsschule (HWV) in der Schweiz auch heute noch an den Fachhochschulen für Wirtschaft auswendig lernen dürfen:
«So bleibt denn die freie Marktwirtschaft ein Wunschbild. Auf Grund einer Fehlbeurteilung des Menschen trägt sie immer Tendenzen der Selbstzerstörung in sich», hielt Dubs in seinem Buch bereits 1982 fest, und er hat diese Aussage auch in der jüngsten Ausgabe seines Buches nicht verändert.
Was ist seither passiert? Warum haben wir trotzdem dereguliert, globalisiert und privatisiert?
Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, linke und rechte Politiker glaubten, in der Schweiz und auf der ganzen Welt werde das Leben für alle Menschen besser, wenn wir Freihandel etablieren. Freihandel mache frei – glaubten sie.
Alle Ökonomen, die warnten, dass Freihandel noch nie in der Geschichte der Menschheit funktioniert habe, wurden auf das wissenschaftliche Abstellgleis geschoben. Man lachte sie öffentlich aus und bezeichnete sie als rückständig und weltfremd und hängte ihnen Etiketten an wie «Kommunist», «Nationalist» und im schlimmsten Fall «Neonazi».
Die Diskussion um die Mindestlöhne macht jedoch klar: Es gibt dauerhaft keine Mindestlöhne ohne Mindestpreise. Und weil die Unternehmen in einem globalisierten, deregulierten und privatisierten Markt keine Mindestpreise erzielen können, können sie auch keine Mindestlöhne mehr garantieren. Ausgerechnet die Länder mit den höchsten Sozial- und Umweltstandards wie die Schweiz verlieren in diesem zunehmend brutaleren Preiswettbewerb und zerstören damit ihre eigenen Sozialeinrichtungen. Die Altersrenten sind nicht mehr gesichert und die Gesundheitskosten explodieren. Preisniveau und Lohnniveau sind innerhalb Europas und erst recht global derart unterschiedlich, dass kein Land mehr auf Dauer die Löhne und damit ein gesichertes Erwerbseinkommen für die eigene Bevölkerung garantieren kann – wenn Freihandel herrscht. Diese Erkenntnis ist jedoch nicht neu.
Sichtbar wurde dies bereits vor ein paar Jahren. Die Surseer Gewerbetreibenden erinnern sich, dass der Bauvorsteher der Stadt Sursee im Rahmen eines Gewerbeaperos im Jahre 2006 ausführte: «Es gibt keinen Heimatschutz mehr für einheimisches Gewerbe.» Dass über die Jahre dann auch die Beamtenlöhne, Lehrerlöhne und weitere mehr unter Druck kommen könnten, war damals ganz offensichtlich vielen nicht bewusst.
Immer deutlicher wird jedoch: Weil wir den Heimatschutz für einheimisches Schaffen wegen der Globalisierung nicht mehr garantieren können, können wir zunehmend auch Mindestlöhne und andere wichtige soziale Anliegen gegenüber der Bevölkerung nicht mehr wahrnehmen, wie wir dies in Zeiten der sozialen Marktwirtschaft in der Schweiz gewohnt waren.
Konkret: Wir heissen noch Bürgerinnen und Bürger – können aber füreinander nicht mehr bürgen. Das sollen heute – in einem zentral gelenkten Europa – alle Europäer füreinander machen. Also sind wir heute in Europa für alle Europäer – und gleichzeitig für niemanden mehr verantwortlich.
Noch konkreter: Wir haben in der Schweiz die Selbstbestimmung und damit die direkte Demokratie abgeschafft.
Rette sich wer kann – lautet da die Devise.
Was aber könnten wir tun, um die direkte Demokratie in der Schweiz zu retten?
Ist schon alles verloren?
Nein, es ist noch nichts verloren – aber den bilateralen Weg so weiter beschreiten wie bisher dürfen wir nicht, wenn wir unseren Kindern eine direkte Demokratie hinterlassen wollen, in der sie für sich selbst und ihre Mitbürger eine gesicherte wirtschaftliche Existenz aufrechterhalten können.
Was könnten die Gewerkschaften tun?
Die Gewerkschaftsbosse könnten sich überlegen, dass es für sie selbst zwar schön wäre, in Brüssel als Kadermitarbeiter der internationalen Gewerkschaften für Gerechtigkeit in ganz Europa zu sorgen. Dass es im Sinne unserer direkten Demokratie vielleicht aber doch sinnvoller sein könnte, wenn wir hier vor Ort wieder für Heimatschutz für einheimisches Gewerbe und ihre Angestellten sorgen. Gewerkschafter könnten erkennen, dass das Schutzrecht des Kleinräumigen auch ihre eigene Klientel – also die Arbeitnehmer – besser schützt als die unkontrollierbare Freizügigkeit von Waren, Geld und Menschen.
Was könnten Arbeitgeberverbände tun?
Die Arbeitgeberverbände könnten erkennen, dass es zwar schön ist, wenn man rund um den Globus aktiv sein kann. Und dass es zwar schön ist, wenn man Traummargen erzielt, indem man alles in Billiglohnländern fabriziert und dann zu uns in die Schweiz importiert. Dass es aber dann doch der eigenen Seele weh tut, wenn man mit ansehen muss, wie die jungen Menschen hier in der Schweiz in einen zunehmend brutalen Arbeitskampf mit jungen Menschen aus der ganzen Welt geschickt werden. Einen Arbeitskampf, in dem unsere Kinder nur verlieren können, weil wir hier in der Schweiz gerade wegen unseren starken Sozialversicherungen ganz andere Fixkostenstrukturen haben als die jungen Menschen in Billiglohnländern, die bereit sind, wie Sklaven für einen Hungerlohn zu arbeiten.
Was will ich damit sagen?
Hören wir doch auf, hier in der Schweiz den Arbeitskampf weiter zu schüren. Gehen wir es gemeinsam an, die Strukturen der sozialen Marktwirtschaft wieder aufzubauen, die wir innerhalb der EFTA noch hatten und die wir jüngst zerstört haben. Machen wir wieder Freihandel im demokratisch erträglichen Mass, indem wir uns wieder selbst regieren, statt dass wir uns von der unsichtbaren Hand des Marktes durch den internationalen Kapitalismus regieren lassen.
Übernehmen wir doch lieber wieder Selbstverantwortung für unser Wohlergehen hier vor Ort, statt dass wir diese Verantwortung an ein anonymes Gebilde delegieren, das die weltweite politische Finanz- und ­Politikergilde als «den Markt» bezeichnet.
Was also brauchen wir, um aus dem zunehmend polemischer geführten Arbeitskampf auszusteigen, mit dem wir unsere gemeinsame Existenzgrundlage zunehmend zerstören?
Wir brauchen wieder Kapitalverkehrskontrolle statt Kapitalfreizügigkeit.
Wir brauchen Schutzzölle statt freien Warenverkehr.
Wir brauchen Arbeitskräftekontingentierung statt freien Personenverkehr.
Und dies brauchen wir nicht, weil wir Angst haben vor dem wirtschaftlich stärkeren Ausland. Wir brauchen dies auch nicht, weil wir rückständige Nationalisten oder gar egoistische Rosinenpicker sind.
Wir Schweizer sind heute noch das einzige Uno-Mitglied mit direkter Demokratie. Und wir haben das Recht, als Bürgerinnen und Bürger hier vor Ort für uns selbst zu bürgen – uns also selbst zu regieren, statt dass wir uns vom internationalen Kapitalismus regieren lassen.
Im heutigen System des internationalen Kapitalismus versuchen alle Weltbürger für alle Weltbürger zu bürgen. Immer mehr stellen wir jedoch fest: Das funktioniert deshalb nicht, weil es uns alle überfordert. Die Idee des Weltbürgertums ist zu weit weg vom menschlichen Mass und damit zu weit weg vom Einflussbereich von jedem Einzelnen. Ein konföderiertes Eu­ropa nach dem Vorbild der Schweiz – das ist, was wir in der EFTA hatten, und das sollten wir wieder etablieren.
Oder wie Präsident de Gaulle schon sagte: «Wir brauchen das Europa der Nationen und der Regionen». «Il n’est jamais trop tard de le (re)faire».    •

(Quelle: Zeit-Fragen Nr. 11)

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